Dörte Schall: „Die größte Änderung beim Bürgergeld ist der Name“
Die rheinland-pfälzische Arbeitsministerin Dörte Schall erklärt im Interview, warum ein teurer Sozialstaat nicht nur negativ ist, wie die Digitalisierung ihn leichter machen kann und was sie sich von der Bundesregierung gewünscht hätte.
IMAGO/Bihlmayerfotografie
Symbolbild Sozialstaat: Mit rund 1,35 Billionen Euro waren die Sozialausgaben im vergangenen Jahr in Deutschland so hoch wie noch nie.
Im vergangenen Jahr waren die Sozialausgaben in Deutschland mit rund 1,35 Billionen Euro so hoch wie noch nie. Woran liegt das?
Diese Summe klingt gewaltig, aber man muss sich genau ansehen, was alles Sozialausgaben sind. Viele denken, es geht dabei nur um das Thema Sozialhilfe, aber ein großer Anteil der Kosten sind zum Beispiel Rentenzahlungen. Ein Grund, dass die Sozialausgaben stetig steigen, ist, dass die Qualität besser wird. In Krankenhäusern, aber auch in Pflegeeinrichtungen sind heutzutage Einzelzimmer der Standard, was noch vor einigen Jahren undenkbar war. Das ist teurer, aber es gibt wohl niemanden, der sich Achtbettzimmer zurückwünscht.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Thema Löhne. Gerade in der Pflege sind die Gehälter in den vergangenen zehn Jahren massiv angestiegen, was zum einen dem Fachkräftemangel entgegenwirkt, aber zum anderen auch endlich die anstrengende Arbeit der Pflegekräfte angemessen entlohnt. Ich persönlich finde es schade, dass der Sozialstaat häufig allein durch die Kostenbrille gesehen wird, denn jede und jeder von uns profitiert im Laufe seines Lebens vom Sozialstaat.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Sozialstaat viel zu kompliziert ist. Wer unterschiedliche Leistungen beantragen will, muss häufig mehrfach dieselben Angaben machen. Warum ist das alles so kompliziert?
Die eine deutsche Sozialgesetzgebung gibt es gar nicht. Sie speist sich aus unterschiedlichen Herleitungen und Ideen. Unser Renten- und Gesundheitssystem stammen aus dem 18. Jahrhundert und wurden immer weiterentwickelt und ergänzt, bis hin zu ganz neuen Systemen wie dem Pflegegeld.
Das hat dazu geführt, dass die einzelnen Sozialgesetzbücher zum Teil dieselben Dinge unterschiedlich definieren, etwa den Einkommensbegriff. Das macht es für alle Seiten wahnsinnig kompliziert – nicht nur für diejenigen, die eine Leistung beantragen. Es führt auch dazu, dass auf der Verwaltungsseite Mitarbeiter im Sozialamt nicht einfach die Abteilung wechseln können, ohne eine längere Einarbeitung zu bekommen, weil die Begrifflichkeiten und die Gesetzeslage in den einzelnen Sozialgesetzbüchern so unterschiedlich sind.
Dörte
Schall
Mehr Klarheit und eine Vereinfachung wären an vielen Stellen möglich.
Die Bundesregierung hat eine Sozialstaatskommission eingesetzt, die auch für diese Fragen bis Ende des Jahres Reformvorschläge machen soll. Was ist da Ihre Erwartung?
Aus meiner Sicht wären mehr Klarheit und eine Vereinfachung an vielen Stellen möglich, indem man die Systeme, die ineinandergreifen, zusammenfasst. In der Theorie ist das aber leider einfacher als in der Praxis. Trotzdem hoffe ich, dass die Sozialstaatskommission hier Vorschläge machen wird.
Viele Menschen, die eine Sozialleistung bekommen, müssen trotzdem noch extra Zuschüsse beantragen, beispielsweise für das Mittagessen ihrer Kinder. Hier wäre eine Vereinfachung, wenn man das eine Formular über das andere legt und nicht überall eine eigene Einkommensprüfung macht, sondern dafür sorgt, dass manche Dinge, wenn sie ein Mal nachgewiesen sind, auch als Beleg für einen anderen Antrag dienen.
Kann die Digitalisierung von Leistungen helfen, Dinge zu vereinfachen?
Auf jeden Fall. Wir sollten die Digitalisierung nutzen, um die Beantragung von Leistungen deutlich zu vereinfachen. Dass zurzeit bei jedem einzelnen Antrag jede einzelne Angabe wieder und wieder geprüft wird, obwohl sie an anderer Stelle bereits abgesegnet worden ist, muss endlich der Vergangenheit angehören.
Vieles ist ja schon heute möglich oder wird es bald, etwa indem ich mich mit der elektronischen Funktion des Personalausweises anmelde oder mit der digitalen Bund-ID oder mit der EU-Wallet. Ein Ausweisdokument sollte reichen, um eine Leistung zu beantragen. Das macht es einfacher für die Bürger, aber auch für die Verwaltung. Und wir müssten dafür nicht einmal Gesetze ändern. Dafür brauchen wir nur in der Verwaltung das Vertrauen, dass zum Beispiel die Bund-ID auch alles erfasst hat, was ich an Daten für ein weiteres Programm brauche.
Dörte
Schall
Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung hier ihren Blick etwas weitet.
Klar ist bereits, dass die Bundesregierung das Bürgergeld zu einer „neuen Grundsicherung“ umbauen will. Wie beurteilen Sie die geplanten Änderungen?
Die größte Änderung ist ja der Name. Ich hoffe, das verursacht keine Kosten in den verschiedenen Behörden, wenn alle Formulare neu gestaltet werden müssen. Inhaltlich bedauere ich sehr, dass in der Diskussion über das Bürgergeld meist vor allem auf eine kleine Gruppe von Menschen abgezielt wird, die es immer gab und immer geben wird, nämlich die, die das System ausnutzen.
Damit wird der Fokus weggelenkt von den 99 Prozent der Menschen, die sich redlich bemühen, eine Arbeit zu finden oder die nicht in der Lage sind, in Vollzeit zu arbeiten, weil sie Erkrankungen haben oder weil sie alleinerziehend sind und keinen Kitaplatz haben. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung hier ihren Blick etwas weitet.
Woher kommt es, dass diese kleine Gruppe so häufig im Mittelpunkt der Debatte steht und den öffentlichen Diskurs bestimmt?
In der gesellschaftlichen Debatte geht es leider häufig darum, auf andere herabzuschauen. Auch das ist nichts Neues, sondern ist wahrscheinlich so alt wie der Sozialstaat selbst. Viele sind offenbar von der Angst getrieben, selbst zu kurz zu kommen.
Leider kommt dabei aktuell die Idee des Bürgergelds zu kurz, dass man Menschen aktiviert und dabei unterstützt, in Arbeit zu kommen, indem man sie qualifiziert und sie auch die notwendige Zeit bekommen, sich weiterzuentwickeln. Und dass man das Bürgergeld als das begreift, was es ist: das letzte Auffangnetz des Sozialstaats, das aber auch dazu dient, wieder nach oben zu kommen und wieder eine gute Arbeit zu finden, von der man leben kann.
Grafik: vorwärts; Foto: MASTD / Jülich
Was bedeutet der Sozialstaat für Sie?
Für mich ist der Sozialstaat der Kitt in unserer Gesellschaft. Er ist das, was uns zusammenhält. Das Wissen, dass ich bei einem Schicksalsschlag oder einer falschen Entscheidung nicht ins Bodenlose falle, sondern von der Gesellschaft getragen werde, dass ich zum Arzt gehen kann, wenn ich Schmerzen habe oder dass ich sicher sein kann, im Alter versorgt zu sein, all das ermöglicht es uns erst, frei und selbstbestimmt zu leben. Deshalb plädiere ich dafür, die Debatte über den Sozialstaat nicht immer nur aus einem negativen Blickwinkel heraus zu führen, sondern eine positive Perspektive einzunehmen.
ist Chefredakteurin des "vorwärts" und der DEMO – Das sozialdemokratische Magazin für Kommunalpolitik sowie Geschäftsführerin des Berliner vorwärts-Verlags.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.