Inland

Paragrafen-Dickicht: Warum der Sozialstaat so kompliziert ist

Anträge müssen immer wieder gestellt werden, bei der Digitalisierung geht es nicht voran: Die SPD will den Sozialstaat transparenter und effektiver machen. Warum aber ist das so schwierig?

von Lea Hensen , Nils Michaelis · 27. Oktober 2025
Man kann sich den deutschen Sozialstaat wie einen verästelten Baum vorstellen, der lange nicht beschnitten wurde.

Man kann sich den deutschen Sozialstaat wie einen verästelten Baum vorstellen, der lange nicht beschnitten wurde.

In den verschlungenen Fluren eines Hinterhofgebäudes in Berlin-Kreuzberg befindet sich eine Einrichtung für Menschen, die mit einer Vielzahl an Problemen kämpfen. Gemeint sind Alleinerziehende. Für sie hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vor wenigen Jahren eine Anlaufstelle in einem Frauenzentrum geschaffen. Auch in den anderen ­Berliner Bezirken gibt es dieses Angebot.

Man braucht ein gutes Orientierungsvermögen, um die Räume der Einrichtung zu finden. Orientierung ist das, was auch die alleinerziehenden Elternteile suchen, die hierher kommen; 85 Prozent von ihnen sind Frauen. Die große Mehrheit von ihnen ist frisch getrennt, das Einkommen reicht plötzlich nicht mehr, um den Unterhalt für sich und die Kinder zu finanzieren. Viele von ihnen kommen zum ersten Mal bewusst mit Deutschlands Sozialstaat in Berührung. Sie sind darauf angewiesen, mehrere Sozialleistungen auf einmal und vor allem möglichst schnell zu bekommen, etwa Bürgergeld, Wohngeld oder einen Unterhaltsvorschuss.

Kompliziert und verwachsen: Der Sozialstaat

Und genau darin liegt das Problem. Denn jede dieser Leistungen muss in ­einer anderen Behörde beantragt werden: Bürgergeld beim Jobcenter, Wohngeld bei der Wohngeldstelle und Unterhaltsvorschuss beim Jugendamt. Viele sind dem Dickicht aus Ämtern und ­Anträgen nicht gewachsen. Menschen in Not stehen einem Ungetüm aus Gesetzen und wenig nachvollziehbaren Strukturen und Abläufen gegenüber. 

Wie kompliziert und ineffizient der deutsche Sozialstaat ist, veranschaulicht ein fiktives Beispiel. Die Geschäftsführung des Sozialamts Köln wollte die Abläufe in der Behörde überprüfen und entwarf  dazu eine sogenannte Persona: Josephine ist 35 Jahre alt, alleinerziehend, teilerwerbsfähig, und pflegt ihren demenzkranken Vater. Das Team in Köln errechnete, dass Josephine Anspruch auf 18 Leistungen hätte, für die sie 18 Anlaufstellen einzeln aufsuchen müsste. Alle 18 Stellen müssten Josephines Finanzen überprüfen und das jährlich wiederholen, wenn sie dort weiter Leistungen bezieht. Einige ihrer Anträge würden sicher abgelehnt, weil sie anderen Anträgen widersprechen. Das allerdings weiß Josefine ­vorher nicht.

502 Sozialleistungen und mehr

Man kann sich den deutschen Sozialstaat vorstellen wie einen riesigen Baum, der über Jahre nicht beschnitten worden ist. Die Folge: Ein Wildwuchs an unzähligen Regeln und Verwaltungsvorschriften, die immer wieder ergänzt wurden, um Einzelfällen gerecht zu werden. Eine Forschungsgruppe des Münchner Ifo-­Instituts zählte zuletzt 502 Sozialleistungen in Deutschland, für die Schätzungen zufolge sieben bis acht Bundesministerien zuständig sind. 

Juristisch sind sie im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt. Das SGB teilt sich in einen allgemeinen Teil und zwölf weitere Bücher auf, die auch die gesetzliche Grundlage der Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen bilden. Allein in den Sozialgesetzbüchern haben die Forscherinnen und Forscher vom Ifo-Institut 3.246 Paragrafen gezählt. Hinzu kommen etliche weitere Gesetze für Leistungen wie das BAföG oder das Elterngeld. Einen Anspruch auf Vollständigkeit stellt der Bericht nicht, im Gegenteil, das Institut ruft dazu auf, sich zu melden, wenn es weitere Leistungen zu ergänzen gibt. 

Ein Chaos, das die schwarz-rote Bundesregierung angehen will. Der Sozialstaat soll effizienter und bürgerfreundlicher werden. Bis Ende des Jahres erarbeitet eine Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern aus Bund, Ländern und Kommunen Vorschläge für eine Reform, die 2026 umgesetzt werden soll. Die SPD begleitet die Arbeit mit einem eigenen Gremium. Parteichefin und Bundesozialministerin Bärbel Bas sagte, sie wolle sicherstellen, dass auch Ideen für eine langfristige Reform in die Debatte einfließen. Die SPD-Politikerin hatte in der Vergangenheit zum Beispiel vorgeschlagen, die Rentenversicherung auf Selbstständige und Beamte auszudehnen.

Schnittstellen boykottieren Arbeitsanreize

Reform bedeutet dabei nicht die Kürzung von Leistung. Bas wehrt sich gegen „harte Einschnitte“ im Sozialsystem, wie sie etwa der Bundeskanzler fordert. „Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten“, sagte Friedrich Merz (CDU) im Sommer. Die Bundessozialministerin bezeichnete das als „Bullshit“. „Die SPD will den Sozialstaat, wie wir ihn kennen, behalten, aber effektiver und transparenter machen“, betonte sie.

Seriban 
Bektas

Mehr Bürokratie und Transparenz auf Seiten der Ämter würden uns auch helfen.

Effektiver und transparenter, das würde zum Beispiel bedeuten, Schnittstellen zwischen Sozialleistungen zu vermeiden, die durch den komplizierten Aufbau des Sozialsystems entstehen. Der Sozialverband Deutschland weist auf Probleme im Zusammenspiel von Bürgergeld, Kindergeld und Wohngeld hin. Menschen, die zu wenig verdienen, um den eigenen Unterhalt zu finanzieren, können ihr Einkommen mit diesen Leistungen aufstocken. Allerdings sind die Freibeträge je nach Sozialleistung unterschiedlich definiert. So kann es passieren, dass bei steigendem Einkommen Zuschüsse wegfallen – und am Ende führt zusätzliche Arbeit nicht automatisch zu mehr Netto. Schwarz-Rot hat angekündigt, zu prüfen, ob Wohngeld und Kinderzuschlag zusammengelegt werden können, um solche Probleme zu vermeiden.

Digitalisierung: Zielmarke weit verfehlt

Einen Pfad durch die zahllosen Verästelungen des Sozialstaats zu weisen, ist bei der Anlaufstelle für Alleinerziehende in Kreuzberg Aufgabe von Seriban Bektas. Die Projektkoordinatorin hört sich die Anliegen der Besucherinnen und Besucher an und sagt ihnen, an welche Behörde sie sich zu wenden haben. Danach fangen die Probleme oft aber erst richtig an. „Das beginnt mit der Antragsstellung“, sagt Bektas. „Für das Bürgergeld muss man sehr viele Nachweise erbringen. Die digitalen Abläufe sind oft sehr kompliziert. Manche Klientinnen und Klienten besitzen kein dafür erforderliches Handy und machen alles auf dem Papierweg.“ Auch dabei leisten Bektas und ihr Beratungsteam Unterstützung und setzen zum Beispiel im Namen der Alleinerziehenden ein Schreiben ans Jobcenter auf.

Die Abläufe in einem Jobcenter, Jugendamt, in der Wohngeldstelle oder im Gesundheitsamt hängen oft von der jeweiligen Kommune ab. Der Sozialstaat wird von rund 500 Behörden in die Praxis übersetzt. Die kommunale Selbstverwaltung führt dazu, dass Anträge, Fristen und andere Modalitäten variieren. Das ist unter anderem auf beachtliche Unterschiede in der Digitalisierung zurückzuführen. Die einst beschlossene Zielmarke, die öffentliche Verwaltung bis 2022 zu digitalisieren, wurde deutlich verfehlt. Laut einer Studie des Vergleichsportals Verivox waren im vergangenen Jahr erst 36 Prozent der Behördendienste digital verfügbar. Vielerorts arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden weiterhin mit Papier-Anträgen und -Akten – und unterschiedlichen IT-Systemen, die einen Datenaustausch verhindern.

Katja Robinson setzt sich seit vielen Jahren für einen bürgerfreundlicheren Sozialstaat ein. Die Professorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin hat mehrere Jahre lang das Kölner Sozialamt geleitet. Die beipielhafte Antragstellerin „Josephine“ in diesem Text stammt von ihr. Robinson berichtet von frustrierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die helfen wollen, aber nicht können, da sie vor allem mit Verwaltungsarbeit beschäftigt seien. „60 bis 80 Prozent der Arbeit gehen für Bürokratie und Einkommens- und Vermögensprüfungen drauf, statt für Beratung oder Unterstützung“, sagt sie.

Übergreifende Beratung und Koordination

Zu Robinsons Forderungen gehört ein übergreifendes Fallmanagement, das die Anträge entgegennimmt und koordiniert. Das größte Einsparpotenzial sieht sie bei den Einkommens- und Vermögensprüfungen. Derzeit prüft jede Leistungsstelle für sich, ob eine Person, die einen Antrag stellt, bedürftig ist. Diese Prüfung wird in regelmäßigen Abständen wiederholt – auch in den Fällen, in denen Änderungen höchst unwahrscheinlich sind. Robinson sagt: Würde man sich auf eine Basisprüfung einigen, und den Datenaustausch zwischen den Behörden automatisieren, würde das viel Arbeit sparen. Eine große Hürde sei der Datenschutz. „Derzeit dürfen wir Daten nicht speichern und verarbeiten, wenn sie nicht für den konkreten Zweck gebraucht werden“, erklärt sie. „Da brauchen wir tatsächlich mehr Vertrauen von Seiten der Bürgerinnen und Bürger.“ 

Marc
Herter

Anstatt immer mehr Gesetze zu erlassen, sollte die Bundesebene den Kommunen mehr vertrauen.

Eine automatisierter Datenaustausch würde wohl auch die Arbeit von Seriban Bektas erleichtern. „Selbst wenn Betroffene Anspruch auf eine Leistung haben, ist es mit sehr viel Aufwand verbunden, diesen auch einzulösen“, sagt die Projektkoordinatorin der Beratungsstelle für Alleinerziehende. „Jede dieser Sozialleistungen folgt eigenen Richtlinien und auch Gesetzeslagen. Der Anspruch muss für jede Transferleistung aufs Neue nachgewiesen werden. Das überfordere viele Betroffene.“

Die Pflicht, die Bedürftigkeit Jahr für Jahr nachzuweisen, obwohl sich die Lebensumstände nicht geändert haben, gehört auch aus Bektas‘ Sicht abgeschafft. „Weniger Bürokratie und mehr Transparenz aufseiten der Ämter würden auch uns helfen“, so die studierte Sozialarbeiterin. „Gut wäre es, wenn es für unsere Zielgruppe eine einzige Anlaufstelle für sämtliche Anliegen und Leistungen geben würde.“

Hamm: Beratungsstelle in Familienfragen

In Hamm in Nordrhein-Westfalen existiert die bereits für eine bestimmte Zielgruppe: Im Jahr 2023 ging dort das „Familienrathaus“ an den Start. Ob Kindergeld oder Kitaplatz: Eltern können hier sämtliche Leistungen, die ihnen zustehen, beantragen oder sich beraten lassen. „Das ist ein sehr attraktives Angebot und dementsprechend bekannt“, sagt der gerade wiedergewählte Oberbürgermeister Marc Herter (SPD). Einer Umfrage zufolge kennen 80 Prozent der Eltern in der westfälischen Großstadt diese Einrichtung. „Das Familienrathaus ist Teil auf unserem Weg, familien­freundlichste Stadt Deutschlands zu werden“, sagt Herter. „Wir – die SPD und ich als OB-Kandidat – sind damit 2020 angetreten, alle städtischen Dienstleistungen rund um die Familie unter einem Dach zu bündeln. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Hammer Ampel-Koalition haben wir es dann ­umgesetzt.“

Wenn es nach Herter geht, sind es gerade die Kommunen, die zu einem effi­zienteren Sozialstaat beitragen könnten, wenn sie mehr Beinfreiheit bekämen. „Anstatt immer mehr Gesetze zu erlassen oder Vorgaben festzulegen, sollte die Bundesebene den Kommunen mehr vertrauen und ihnen mehr Spielraum bei der Gestaltung von Leistungen einräumen“, sagt der Oberbürgermeister. Auch sollten die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen klarer und weniger kompliziert ausgestaltet sein. 

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

Autor*in
Nils Michaelis ist Redakteur des vorwärts
Nils Michaelis

ist Redakteur des vorwärts.

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