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Sozialstaat: „60 bis 80 Prozent der Arbeit gehen für Bürokratie drauf“

Ist der Sozialstaat in Deutschland zu teuer? Fest steht: Er ist hochkomplex. Expertin Katja Robinson spricht im Interview über ein System, das aufgeräumt werden will, und über ihre Visionen von einer Reform.

von Lea Hensen · 24. September 2025
Ein Großteil der Arbeit im Sozialamt geht für Bürokratie statt Unterstützung drauf, sagt Sozialexpertin Katja Robinson.

Ein Großteil der Arbeit im Sozialamt geht für Bürokratie statt Unterstützung drauf, sagt Sozialexpertin Katja Robinson.

Die Debatte um den Sozialstaat läuft auf Hochtouren: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) findet ihn zu teuer, Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hält das für „Bullshit“. Eine, die sich sehr gut mit dem deutschen Sozialwesen auskennt, ist Katja Robinson, Professorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Die Juristin leitete mehrere Jahre lang das Kölner Sozialamt. Aus der Praxis weiß sie: Das größte Problem ist der Bürokratiestau.

Was macht das Sozialleistungssystem so komplex? 

Das Sozialgesetz ist ein Bundesgesetz, das von den Ländern und Kommunen umgesetzt wird. Insgesamt gibt es in Deutschland zum Beispiel rund 500 Sozialämter. Rechtlich gliedert sich das Sozialgesetzbuch (SGB) in zehn inhaltliche Bereiche: Das SGB II etwa regelt das Bürgergeld für Erwerbsfähige, das SGB IX die Rehabilitation und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Jeder Bereich hat eigene Rechtskreise. 

Was sind die Folgen dieser Struktur?

Die kleinteilige Zuständigkeit führt zu vielen Sonderregelungen und Doppelprüfungen. So entsteht ein enormer Aufwand, wenn eine oder ein Antragsteller*in von einer Leistung in eine andere wechselt, weil sich zum Beispiel Einkommen und Erwerbstätigkeit ändern. Wir haben in unserem System eine theoretische Einzelfallgerechtigkeit geschaffen, die so umständlich geworden ist, dass sie in der Praxis oft nicht bei den Menschen ankommt.

Wie sieht die Arbeitsrealität im Sozialamt aus?

60 bis 80 Prozent der Arbeit gehen für Bürokratie und Einkommens- und Vermögensprüfungen drauf, und nicht für Beratung oder Unterstützung. Das ist auch für die Mitarbeitenden frustrierend. Zudem ist die Arbeitsbelastung groß, viele Stellen sind jetzt schon unbesetzt, und die Babyboomer-Generation ist noch nicht einmal in Rente. 

Wieso sind die Einkommens- und Vermögensprüfungen so umfangreich?

Die Behörden müssen jedes Jahr neu überprüfen, ob sich an der Bedürftigkeit der Leistungsempfänger*innen etwas geändert hat. Sie müssen die Nachweise jedes Mal neu einholen, auch wenn Änderungen unwahrscheinlich sind – wie bei einer 83-jährigen Frau, die schwerstbehindert im Pflegeheim lebt. Für jeden Leistungsanspruch gibt es einen anderen Einkommens- und Vermögensbegriff, zum Beispiel durch andere Bezugszeiten. 

Wie wirkt sich das auf den Menschen aus?

Bürger*innen können immer weniger nachvollziehen, was in dem System passiert, und entwickeln ein Misstrauen gegenüber dem Staat. Statt darin unterstützt zu werden, ihre Existenz selbst zu sichern, werden sie hauptberuflich zu Behördengänger*innen, die nachweisen müssen, dass sie bedürftig sind. Durch die kommunale Selbstverwaltung kommt es auch zu Inkonsistenzen: Es kann passieren, dass ein Mensch mit einer Behinderung in einem Bundesland als ausbildungsfähig attestiert wird, und in einem nicht. 

Können Sie Beispiele aus der Praxis machen?

In meiner Zeit als Leitung beim Sozialamt Köln haben wir eine Beispielperson entworfen: Josefine, 35, ist alleinerziehend, hat eine Teilerwerbsminderung und pflegt ihren demenzkranken Vater. Wir haben berechnet, dass sie für die Unterstützung, die ihr zusteht, 18 Antragsstellen anlaufen muss. Einige Anträge scheitern, weil sie voneinander abhängen oder sich widersprechen. Da es kein zentrales Fallmanagement gibt, erfährt sie das vorher nicht. 

Katja Robinson

Die Juristin Katja Robinson setzt sich seit vielen Jahren für eine effizientere Zukunft des deutschen Sozialwesens ein. Von 2019 bis 2025 leitete sie das Amt für Soziales, Arbeit und Senioren der Stadt Köln. Seit April 2025 ist sie an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin als Professorin für rechtliche Grundlagen sozialer Professionen berufen.

Katja Robinson ist Professorin für rechtliche Grundlagen sozialer Professionen an der katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin.

Wie ist Ihre Vision?

Eine Basis-Einkommens- und Vermögensprüfung, die mit Finanzbehörden und Sozialversicherungssystemen eng verzahnt ist, würde sehr entlasten. Momentan ist es außerdem so, dass jede Behörde nur in ihrem Zuständigkeitsbereich berät. Dabei ist es eigentlich schon jetzt gesetzlich vorgesehen, dass eine Behörde Anträge, die nicht in ihre Zuständigkeit fallen, hinter den Kulissen weiterreicht. Wir möchten vor Ort je nach den konkreten Bedarfen im Quartier zu einem Fallmanagement kommen, das alle Leistungen rechtskreisübergreifend koordiniert. Digitale Zahlsysteme und Datenabgleiche würden viel Bürokratie und Arbeit sparen. Die Rentenversicherung hat bereits gute Schnittstellen mit den Finanzbehörden. 

Ist da nicht Datenschutz ein Problem? 

Derzeit dürfen wir Daten nicht speichern und verarbeiten, wenn sie nicht für den konkreten Zweck gebraucht werden. Da müssen wir unseren sozialen Datenschutz optimieren und brauchen tatsächlich mehr Vertrauen von Seiten der Bürger*innen. Denn der Staat geht sicherlich weitaus verlässlicher mit Datenschutz um, als manches Unternehmen, dem wir beim Online-Einkauf alle unsere Daten geben. 

Wie ist der Stand bei der Digitalisierung?

Das ist von Behörde zu Behörde unterschiedlich. Insgesamt müssen wir da unbedingt Fortschritte machen. Allerdings sparen wir keine Zeit, wenn wir faktisch ein schlechtes System digitalisieren. Digitalisierung muss begleitet werden von Bürger*innenorientierung, Prozessoptimierung und Entbürokratisierung. Ein Beispiel ist Elster im Steuersystem: Weil die Plattform so komplex ist, greifen Bürger*innen heute zu kostenpflichtigen Apps, um überhaupt mit dem System zurechtzukommen.

Wie schnell könnte eine Reform des Sozialsystems umgesetzt werden?

Das ist kein Prozess, der sich von heute auf morgen umsetzen lässt. Einiges lässt sich sicher schnell anpassen. Eine grundlegende Neuaufstellung kann gut fünf bis zehn Jahre brauchen, um gemeinsam mit Bürger*innen Erprobungen abzuschließen und zu evaluieren. Aber es ist jetzt an der Zeit, anzufangen. Wir brauchen eine lang- und mittelfristige Strategie, auf die schnelle Lösungen, wie ein „Herbst der Reformen“, einzahlen kann.

Kanzler Merz möchte beim Bürgergeld fünf Milliarden Euro sparen, die SPD wehrt sich gegen Kürzungen. Haben Sie den Eindruck, die Koalition denkt in Sozialfragen in die gleiche Richtung?

Mit Bürger*innenorientierung und föderal bündelnder Prozessoptimierung könnten wir mehr sparen als mit der Kürzung von Leistungen. Ich glaube aber, die Debatten, die gerade geführt werden, sind wichtig, weil wir in der Gesellschaft ein Gefühl von Ungerechtigkeit haben. Wir haben jetzt die Chance, auszuhandeln, wie wir das Soziale in unserem Land gestalten. Dabei ist es gerade besonders wichtig, dass die demokratischen Kräfte beisammenbleiben. 

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Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Mi., 24.09.2025 - 16:46

Permalink

alles das kostet Zeit und noch mehr Geld. Was wir brauchen, ist ein kurzer Weg zur Leistung, dh. Wer seinen Bedarf ausreichend präzise beschreibt, bekommt diesen bewilligt- nur noch ungenaue Anträge müssen im Sinne der notwendigen Präzisierung wohlwollend hinterfragt werden

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Mi., 24.09.2025 - 17:17

Permalink

Ich bin es müde mir das Gerede von verbeamteten ProfessorInnen oder sonstigen "Experten" anzuhören, die etliche tausende € monatlich erhalten. Für dieses bestehende System ist dich kaum einer bereit zu töten oder sich totschießen zu lassen, nur das darf nicht an die Öffentlichkeit. Da sind Pisstorius und Kriegsgewitter vor.

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