Sozialstaat 2.0: Worauf es bei der Reform jetzt ankommt
Das Rentenpaket wurde beschlossen, doch für eine Reform des Sozialstaats war das erst der Anfang. Was muss sich ändern, damit unser soziales Sicherheitsnetz der Demokratie von heute gerecht wird?
IMAGO/Bihlmayerfotografie
Symbolbild Sozialstaat: Mit rund 1,35 Billionen Euro waren die Sozialausgaben im vergangenen Jahr in Deutschland so hoch wie noch nie.
Die Gemüter haben sich allmählich beruhigt. Nachdem das Rentenpaket verabschiedet wurde, verblasst auch der Streit über die Sicherung der Haltelinie. Sie gibt allen Rentner*innen, und auch solchen, die es noch werden wollen, eine gewisse Grundsicherheit über das zu erwartende Rentenniveau. Ohnehin wurden die Auseinandersetzungen mit einer unangemessenen Aufgeregtheit geführt und endeten meist mit Kürzungsvorschlägen, die das Leben vieler Menschen belastet hätten.
Die Konsequenzen aus dem jetzigen Beschluss sind jedoch alles andere als dramatisch, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass die vermuteten Mehraufwendungen über viele Jahre aufsummiert werden mussten, um überhaupt eine mediale Aufmerksamkeitsschwelle zu überschreiten.
Sozialstaat bedeutet Freiheit von Not
Nun ist die Zeit gekommen, sich über eine wirkliche Reform des Sozialstaats in allen seinen Aspekten Gedanken zu machen. Es geht um den Sozialstaat 2.0.
Für die SPD geht es dabei nicht um einen lästigen Kostenfaktor, den es möglichst gut unter Kontrolle zu halten gilt. Der Sozialstaat ist vielmehr ein konstitutiver Bestandteil einer sozialen Demokratie. Ohne Sozialstaat gibt es keine Freiheit von Not. Ohne Sozialstaat geht es nicht gerecht zu in einer Gesellschaft. Der Sozialstaat ist letztlich Ausdruck institutionalisierter Solidarität.
Aus dieser hohen Bedeutung des Sozialstaats entsteht aber auch Verantwortung. Der Sozialstaat muss immer wieder an sich wandelnde gesellschaftlichen Bedürfnisse und Gegebenheiten angepasst werden. Hier ist in den letzten Jahren zu wenig geschehen. Unsere Gesellschaft ist im Verlauf der vergangenen Jahre deutlich vielfältiger, offener und auch älter geworden. Dem muss auch der Sozialstaat Rechnung tragen. Es bedarf eben eines Sozialstaats 2.0.
Weniger komplizierte Verfahren und Bürokratie
Drei Ziele sollten im Vordergrund der Reformbestrebungen stehen. Der Sozialstaat 2.0 sollte stabil, zugänglich und gerecht sein. Er sollte stabil sein, um allen, die ihn benötigen, die Sicherheit zu geben, dass er sie auffängt, sollten sie ihn benötigen. Wir sind schließlich alle nur einen oder wenige Schicksalsschläge davon entfernt, ihn nutzen zu müssen.
Der Sozialstaat muss auch leicht zugänglich sein. Komplizierte Verfahren und hemmende Bürokratie sind gerade das, was Menschen in Not und Alter nicht gebrauchen können. Der Zugang zu ihren berechtigten Ansprüchen darf ihnen nicht unnötig erschwert werden.
Und es muss gerecht zugehen, damit er allseits akzeptiert wird. Das betrifft sowohl die Frage, wer welche Ansprüche an ihn stellen darf, als auch, wer ihn wie finanziert.
Digitalisierung führt zu mehr Effizienz
Diese Ziele erfordern weitgehende Reformen. So gilt es, den Zugang zum Sozialstaat umfassend zu digitalisieren, sodass überflüssige Wege zu verschiedenen Institutionen und kostspielige Klärungsprozesse vermieden werden können. Auf längere Sicht sollten sich auf diesem Weg erhebliche Effizienzgewinne ergeben, die die Finanzierung und die immer schwieriger werdende Ausstattung mit Personal erleichtern sollten. Allen, denen ein digitaler Zugang nicht möglich ist, sollte dieser über lokale Beratungsstellen oder Bürgerbüros ermöglicht werden.
Die Effizienzgewinne lassen sich noch steigern, wenn alle 13 Sozialgesetzbücher begrifflich vereinheitlicht werden. Schon unterschiedliche Einkommensdefinitionen können zu überflüssigen juristischen Auseinandersetzungen über Zuständigkeiten führen. Das erschwert nicht nur den Zugang zu Leistungen und macht damit das Leben von ohnehin belasteten Menschen noch schwerer. Es ist auch ungerecht, weil sich in diesem undurchdringlichen Dschungel an Vorschriften eher die Cleversten durchsetzen und nicht die Bedürftigsten.
Fehlanreizen durch mangelnde Abstimmung
Die Unübersichtlichkeit, die mangelnde Abgestimmtheit und die Striktheit verschiedener Regelungen wie beim Bürgergeld oder beim Wohngeld führen immer wieder zu ökonomischen Fehlanreizen. Sie machen zum Beispiel die Aufnahme von Arbeit oder Mehrarbeit wenig lohnend. All dies müsste geändert werden.
Derartige Reformen werden auf lange Sicht nicht nur das Leben von Menschen besser machen, sondern auch erhebliche Einsparungen bringen. Auf kurze Sicht können sie zwar die Kosten in der Umstellungs- und Reformphase sogar erhöhen. Das aber sind notwendige Investitionen in den Sozialstaat, die ihn, anders als primitive Kürzungsvorschläge, stabiler, zugänglicher und gerechter machen.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Er gründete und war von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.