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Grundsicherung: Was psychisch Kranke bei der Jobsuche brauchen

22. December 2025 13:20:00

Mit der neuen Grundsicherung sollen härtere Sanktionen für Menschen folgen, die Termine im Jobcenter versäumen. Menschen mit psychischen Problemen sollen davon ausgenommen werden. Experten wie Jürgen Leuther zweifeln dennoch, dass die neuen Regeln funktionieren. 

Arbeitslosigkeit kann die Symptome bei psychisch Belasteten verstärken.

Mit der neuen Grundsicherung sollen ab Mitte 2026 härtere Sanktionen für Menschen kommen, die nicht ausreichend mit dem Jobcenter zusammenarbeiten. Verpasste Termine oder ausgeschlagene Stellen können dann zu Kürzungen der Leistung von bis zu 100 Prozent führen. 

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) betonte mehrfach, man wolle mit den Sanktionen nicht „die Falschen treffen“. Psychisch kranke Menschen sollen besonders geschützt werden. Im aktuellen Gesetzesentwurf ist geregelt, dass Jobcenter Betroffene vor einer Sanktion persönlich anhören müssen, wenn ihnen eine psychische Erkrankung bekannt ist oder ein Verdacht auf Schwierigkeiten mit einer schriftlichen Anhörung besteht. 

Mehr als die Hälfte sind psychisch belastet

Reicht das, um psychisch Belastete vor harten Sanktionen zu schützen? Jürgen Leuther ist Vorsitzender der Deutschen Depressionsliga, einem Verein, der die Interessen von Depressionskranken gegenüber der Politik vertritt. Der Therapeut mit langjähriger Erfahrung in Sozialpsychiatrie hat die Debatte um strengere Sanktionen mit großer Skepsis verfolgt. 

Herr Leuther, wie verbreitet sind Depressionen unter Arbeitslosen?

Depression ist in Deutschland mittlerweile fast eine Volkskrankheit. Früher waren vier bis fünf Millionen Menschen betroffen, Schätzungen zufolge sind es heute rund sechs bis neun Millionen. Das entspricht etwa 7 bis 10 Prozent der Bevölkerung. Für Arbeitslose selbst gibt es keine genauen Zahlen, zeitweise wird von 50 bis 80 Prozent gesprochen, die psychisch belastet seien. Arbeitslosigkeit und Depression verstärken sich oft gegenseitig. Wer arbeitslos wird, verliert häufig Struktur im Alltag und soziale Kontakte, was die psychische Belastung zusätzlich erhöht.

Wie bewerten Sie die schärferen Regeln, die mit der neuen Grundsicherung eingeführt werden?

Die Diskussion geht am eigentlichen Thema vorbei. Man unterstellt Arbeitslosen, sich nicht richtig zu bemühen, und dass Sanktionen sie zum Arbeiten motivieren würden. Aber diejenigen, die wirklich eine Depression haben, werden durch Druck mit Sanktionen nur noch mehr belastet. Beispielsweise sollen Leistungsbeziehende Vermieter*innen auf zu hohe Mietkosten hinweisen. Viele fürchten dann aber, ihre Wohnung zu verlieren. Es werden also existentielle Ängste geschürt, mit denen auch Gesunde überfordert wären. Das ist schier unmenschlich.

Niedrigschwellige psychosoziale Angebote

Was sind ihre Erfahrungen im Umgang der Jobcenter mit psychisch belasteten Menschen?

Kapazitäten, um individuell auf psychische Belastungen einzugehen, sind oft nicht vorhaben. Ich kann nur aus eigener Erfahrung berichten: Auch als ausgebildeter Therapeut habe ich während einer schweren Depression große Probleme gehabt, mich um regelmäßige Krankschreibung zu kümmern. Dadurch fiel irgendwann mein Krankengeld weg. Ich habe dann von meinem Vermögen gelebt, erst als es mir besser ging, bin ich zum Jobcenter gegangen. Wenn Menschen ohne Vorerfahrung um psychische Erkrankungen in diese Situation geraten, kann das überwältigend sein.

Wie könnte man diesen Menschen helfen?

Es braucht viel mehr niedrigschwellige, aufsuchende psychosoziale Angebote. Sozialpsychiatrische Dienste der Kommunen oder Wohlfahrtsverbände sowie Berufsintegrationsdienste müssen flächendeckend ausgebaut werden. Und sie sollten stärker darauf ausgerichtet sein, Menschen früh zu erreichen, wenn sie noch eine Chance haben, zurück in das System zu finden. Das Prinzip sollte Fördern statt Fordern sein: erst Unterstützung anbieten, bevor Kürzungen greifen. Stattdessen erleben wir ein Klima des Sozialabbaus, nicht nur beim Bürgergeld. 

Mitarbeiter*innen sollten geschult werden

Der Gesetzentwurf zur neuen Grundsicherung überlässt den Mitarbeiter*innen im Jobcenter die Entscheidung, ob sie einen Menschen persönlich anhören, wenn Totalsanktionen drohen, oder ob es ausreicht, einen Brief zu schreiben. Wer sich dann nicht meldet, wird sanktioniert. Reicht das, um Menschen mit psychischen Problemen zu schützen?

Nur, wenn die Mitarbeiter*innen in den Jobcenter speziell geschult werden, um psychische Symptome richtig einzuordnen. In meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Sozialarbeiter habe ich verstanden, dass man auch Menschen mit multiplen Schwierigkeiten helfen kann, wenn man eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufbaut. Ein Modell wie das in den USA stark verbreitete „Clinical Social Work“ wäre ideal: Sozialarbeiter*innen, die psychotherapeutisch geschult sind und die Menschen zuhause besuchen, um konkrete Alltagsschritte mit ihnen zu gehen. 

Könnte man nicht einfach sagen, Betroffene können sich selbst schützen, indem sie einfach zum Arzt gehen und sich ihre Symptomatik bescheinigen lassen?

Damit das funktioniert, müsste erst die psychiatrische Versorgung verbessert werden. Wer das Hilfesystem kennt, weiß, dass es wirklich gravierende Mängel hat. Gerade im ländlichen Raum gibt es teilweise keine niedergelassenen Psychiater, und auch keine niedrigschwelligen Ambulanzen. Gut wären Ambulanzen, in denen Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen zusammenarbeiten. Aber auch die psychotherapeutische Versorgung ist katastrophal, mit oft monatelangen Wartezeiten auf Therapieplätze.

Was würden Sie Menschen raten, die in die Grundsicherung rutschen und psychisch belastet sind?

Man sollte immer versuchen, sich irgendwo Hilfe zu holen. Gerade im Umgang mit Behörden sollte man versuchen, nicht alles persönlich zu nehmen. Und suchen Sie sich Unterstützung bei Sozialarbeiter*innen, Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen.

Autor*in
Lea Hensen
Lea Hensen

ist Redakteurin des „vorwärts“.

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