Neue Grundsicherung: Wer vor Sanktionen angehört werden soll
Wann kommt die Reform des Bürgergelds? Unionspolitiker*innen befürchten, die geplanten strengeren Sanktionen bei der neuen Grundsicherung würden untergraben, wenn Betroffene vorher persönlich angehört werden müssen. Was ist da dran?
IMAGO/Michael Gstettenbauer
Jobcenter sind dazu verpflichtet, Betroffene vor einer Sanktion oder Leistungskürzung anzuhören.
Lange haben CDU/CSU und SPD um Eckpunkte für die Reform des Bürgergelds gerungen, am Mittwoch sollte der Entwurf ins Kabinett kommen – doch daraus wurde nichts. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) haben ein Veto eingelegt. Die Reform kommt deswegen voraussichtlich erst kommende Woche, am Mittwoch, 17. Dezember, auf die Tagesordnung der Regierung.
Die Reform zur Neuen Grundsicherung sieht vor, dass schärfere Sanktionen unter anderem für Terminversäumnisse schneller greifen. Wer zwei Termine im Jobcenter versäumt, soll 30 Prozent seiner Leistungen verlieren. Wer drei Termine versäumt, bekommt die Leistungen vollständig gestrichen. Wer auch danach nicht im Jobcenter erscheint, riskiert außerdem den Verlust der Übernahme der Wohnkosten.
Psychisch Kranke besonders schützen
Die Kritik von Reiche und Dobrindt dreht sich um die Frage, inwiefern Leistungen gestrichen werden können, ohne dass Bürgergeld-Empfänger*innen zuvor persönlich angehört wurden. Wie das „Handelsblatt“ berichtete, befürchten die Unions-Minister*innen, Betroffene könnten „den Leistungsentzug einseitig verhindern“, wenn Sanktionen erst nach einer persönlichen Anhörung verhängt werden können. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) will mit dem Instrument der Anhörungen vor allem psychisch Kranke vor Sanktionen schützen. Bei der Vorstellung der Pläne im Oktober hatte sie betont, man wolle „Härtefälle“ ausnehmen.
Die Möglichkeit zur Anhörung sei wichtig, damit „wir nicht die Falschen treffen bei Sanktionen“, sagte sie am Donnerstagmorgen nach dem Koalitionsausschuss. Es gebe Menschen, „die Post nicht aufmachen, die sich nicht zurückmelden, auch Angst vor Behörden haben“. Es sei ihr „auch persönlich wichtig, dass wir diese Menschen schützen, bevor sie totalsanktioniert werden“.
Jede*r hat ein Recht auf Anhörung
Grundsätzlich haben Leistungsempfänger*innen bereits jetzt immer ein Recht auf Anhörung, bevor Sanktionen greifen. So steht es im Sozialgesetzbuch II. Diese Anhörung kann schriftlich oder persönlich erfolgen. Der Gesetzesentwurf zur Bürgergeld-Reform geht nun ein Stück weiter, indem er vorgibt, dass Leistungen nur dann vollständig gestrichen werden können, wenn die Anhörung vorher persönlich ablief. So soll verhindert werden, dass psychisch Kranke ihr Recht auf Anhörung nicht wahrnehmen, weil es ihnen schwerfällt, Briefe zu öffnen oder zu verfassen.
Ein Leistungsentzug könnte immerhin gravierende Auswirkungen auf ihre persönliche Situation und Gesundheit haben. Sind dem Jobcenter psychische Probleme bereits im Vorfeld bekannt, soll die Anhörung auch schon bei Leistungskürzungen von 30 Prozent persönlich erfolgen.
Aber wie soll das Jobcenter persönlich mit den Betroffenen sprechen, wenn sich diese nicht von selbst melden? Für diesen Fall nennt der Gesetzesentwurf die Möglichkeit, dass Jobcenter-Mitarbeiter*innen die Betroffenen telefonisch kontaktieren oder zuhause aufsuchen. Es läge in dem Fall also in der Verantwortung der Jobcenter, die Anhörung umzusetzen.
Verfassungsrichter*innen gaben mündliche Anhörung vor
Inwieweit Jobcenter sich dieser Aufgabe annehmen sollten, ist offenbar Streitpunkt zwischen Union und SPD. Der Gesetzesentwurf bezieht sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 zu Sanktionen bei der Grundsicherung. Die Verfassungsrichter*innen setzten damals fest, dass Betroffenen vor einer Sanktion die Möglichkeit gegeben werden muss, besondere Umstände „wie familiäre oder gesundheitliche Probleme oder eine Diskriminierung am aufgegebenen Arbeitsplatz“ darzulegen.
Oftmals gelinge dies aber nicht schriftlich. Daher müsse es ihnen möglich sein, „ihre persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vortragen zu können“, so das Urteil. Nicht näher näher definiert ist bislang, wie und durch wen besondere Umstände und Erkrankungen nachgewiesen werden.
Die SPD kritisiert das Zögern der Union. Annika Klose, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, sagte dem „Handelsblatt“, 50 bis 80 Prozent der Leistungsempfänger*innen hätten psychische Probleme, „und es darf keinesfalls passieren, dass solche Menschen in der Obdachlosigkeit landen“. SPD-Parlamentsgeschäftsführer Dirk Wiese sagte mit Blick auf die Kritik von Wirtschaftsministerin Reiche, er würde sich wünschen, „sie würde mit der gleichen Energie sich beim Industriestrompreis dafür einsetzen, dass eine wirkliche Entlastung bei den Unternehmen ankommt“.