Meinung

Appell an die SPD: Legt endlich diese Bravheit ab!

Während die Demokraten in den USA langsam wieder lernen, Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erzeugen, schickt sich die SPD an, sich in den Schatten der Merz-Union zu stellen. Dabei gibt es gerade ein passendes Thema, mit dem sie selbstbewusst auftreten könnte.

von Oliver Czulo · 22. Oktober 2025
Eine digitale Werbetafel mit dem SPD-Slogan: Soziale Politik für Dich.

Der Slogan verkörpert die Werte der SPD: soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und eine starke Gemeinschaft.

Vergangenen Sommer schien ein neuer kommunikativer Stil der SPD durchzublitzen: Mattheus Berg schlug in einem Beitrag vor, die SPD müsse wieder emotionalisieren, und prominente Stimmen wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer reihte sich mit gleichlautenden Forderungen ein. Lars Klingbeil reizte die Union mit dem Vorschlag, reiche Menschen stärker zu besteuern. Bärbel Bas ließ verlautbaren, dass der Sozialstaat ohne Not kaputtgeredet würde. War da ein Mut zur klaren Haltung zu erkennen?

Diese kurz aufblitzenden Eindrücke fielen in der öffentlichen Wahrnehmung schnell in sich zusammen. Friedrich Merz darf ungestraft nicht nur den Sozialstaat weiter kaputtreden, sondern durfte sogar ankündigen, es der SPD in der Debatte um Sozialreformen nicht leicht machen zu wollen. Die geplanten teils sehr harten Sanktionen für Bürgergeldempfänger*innen (zukünftig: Grundsicherungsempfänger*innen), die nun verkündet wurden, zeugen davon. Katherina Reiche kann ungehindert die Energiewende torpedieren, gegen Alexander Dobrindts rechtswidrige Pushback-Politik vernimmt man nicht mal einen zaghaften Einwand.

Ab und zu empört aufzeigen

Die SPD zeigt damit Anzeichen, dass sie wieder in die Rolle zurückfallen könnte, die sie zu Zeiten der Merkel-Koalitionen erlernt hatte: Sich brav in den Maschinenraum stellen, ab und zu empört aufzeigen, aber den Finger sogleich wieder einziehen. Dazu passend, so analysiert Berg zutreffend, richtet sie sich gerne im Erklärmodus ein. Außerdem, so Berg, fehle es der SPD an einer Sprache, die am Küchentisch Bestand habe. Sind Emotionalisierung und einfache Sprache der Weg aus der Bravheitsfalle? Es folgt ein „Ja, und“.

Die große Emotion gehört sicher in manchen Fragen zum Politikstil einer Partei, die sich dem Fortschritt verschreibt. Ebenso klar ist, dass sie alleine keine auf Dauer tragende Strategie ist: Was passiert, wenn die Zeit einer bewegten Debatte verstrichen ist, wenn man wieder in einer Phase von Sachlichkeit und Kompromiss ankommt?

Enttäuschung kann sich schnell einstellen. Aber auch etwas anderes ist Emotion: Verlässlichkeit zu spüren, zu wissen, dass es mit der SPD schon irgendwie gut wird. Das ist etwas, was die Union schon immer beherrscht: Zu verkörpern, dass es mit ihr am Ruder Deutschland gut gehen werde. Immerhin hat die Union mit dem „(Wirtschafts-)Standort Deutschland“ ein griffiges, dauerhaft tragendes Bild, das vor allem sie gepachtet zu haben scheint. Was genau hat nochmal die SPD?

Begriffe mit Inhalten füllen

Ähnlich differenzieren muss man gegenüber allzu einseitig formulierten Forderungen nach einer einfachen, „bürgernahen“ Sprache. Mit Verlaub, aber wie Berg zu behaupten, Begriffe wie „Teilhabe“ oder „sozial-ökologische Transformation“ seien nur fürs Papier geschrieben, spricht einem großen Teil der Bevölkerung gewissermaßen eine intellektuelle Minimaltiefe ab. 

Ja, manchmal muss man in einfachen Worten zuspitzen können, aber es sind sehr, sehr viele Menschen in der Lage, diese Begriffe mindestens zu verstehen, aber nur, solange man diese theoretischen Hüllen mit konkreten Inhalten füllt. Wer sich allerdings zu sehr in eine zu einfache Kommunikation begibt, erreicht viele Gruppen nicht (Stichwort u. a. die von Berg angeführte ‚Intelligenzia‘) und kann zu schnell als zu einfach gestrickt wahrgenommen werden. Neben einer mutigeren Kommunikation ist also erforderlich, verschiedene Zielgruppen ansprechen (und Kanäle nutzen) zu können.

Fallbeispiel: die Karte Sozialstaat

Um die oben aufgeworfene Frage, was denn die SPD im Vergleich zur Union hat, zu beantworten: eines ihrer Kernthemen ist der Sozialstaat. Diesen hat die Union mit ihren Reformplänen wieder auf die Tagesordnung gehoben. Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft, die heute sicher nicht mehr so sehr wie früher, aber doch immer noch mit der Sozialdemokratie verknüpft wird und zu der eine emotionale Bindung nicht nur seitens der SPD selbst besteht. Er ist eine Einrichtung unserer Gemeinschaft, die vorbeugen und Menschen in Zeiten von Not tragen soll, im Grunde eine institutionalisierte Form von Mitmenschlichkeit. Dass der Sozialstaat auch mit wirtschaftlicher Vernunft zusammengeht, zeigt das Konzept der sozialen (noch besser: sozial-ökologischen) Marktwirtschaft.

Der Sozialstaat ist eine der Karten, die man schnell ziehen kann, um, wie Berg fordert, im Zweifelsfall schnell reaktionsfähig zu sein, also einer Debatte nicht hinterherzuhinken und sie damit anderen zu überlassen. In der öffentlichen Debatte kann der Sozialstaat als emotionaler Bezugspunkt dienen, für den man sich bei Bedarf mit deutlichen Worten melden kann. Außerdem ist der Sozialstaat etwas, das man mit Beispielen „aus dem Leben“ einfach darstellen, aber auch intellektuell weit verästelt ausdiskutieren kann. Er ist eine Umsetzung von Gerechtigkeitsprinzipien, die griffig ist und nicht sofort in ihrer konzeptuellen Größe erschlägt.

Selbstverständnis mutig ausspielen

Der Sozialstaat, so könnte man feststellen, gehört zum unmissverständlichen Selbstverständnis der SPD. Allerdings hat man hier wie bei anderen Themen zu oft zu schnell Einschränkungen und Relativierungen gehört, die nicht in dieses Bild passen wollen. Bei allem Realismus für das Sinnvolle und Machbare darf dieses Selbstverständnis nicht, wie in der Vergangenheit zu oft, durch vorauseilenden Gehorsam, Einknicken vor allzu durchsichtigen Angriffen oder Ähnliches verwischt werden.

Und wenn mal, wie aktuell, schwierige Kompromisse anstehen, können diese kritisch kommuniziert werden, gerade in einer Koalition, in der der Partner öffentlich verlautbaren ließ, es der SPD nicht einfach machen zu wollen. Während Merz zur aktuellsten Sozialstaatsreform markig verkündete, das Thema Bürgergeld würde nun der Vergangenheit angehören, hörte man von der SPD Statistiken zu Einsparungen und Ansichten zur Verfassungsmäßigkeit. Von einem Gegengewicht zu dieser Maßnahme, beispielsweise einer höheren Erbschaftssteuer für große Vermögen, vernahm man wenig bis nichts. Das ist Erklärmodus im sozial (und auch sonst) sehr kalten Schatten der Merz-Union.

Sozialdemokratische Orientierung geben

Ohne die nötige Deutlichkeit wird das Bekenntnis zum Sozialstaat – wie auch zu anderen Positionen – weder durchdringen noch Teil eines wiedererkennbaren, auf Dauer entscheidungs- und handlungsleitenden Selbstverständnisses der SPD. Ein solches Selbstverständnis wäre eine Grundlage dafür, aus sozialdemokratischer Perspektive Orientierung zu geben und die SPD weiterhin tief im politischen Koordinatensystem der Republik zu verankern. Um das zu erreichen, müsste sich die SPD aber den entnervenden Bravheitsreflex endlich abtrainieren.

Autor*in
Oliver Czulo
Oliver Czulo

ist Übersetzungswissenschaftler und beschäftigt sich mit Denk- und Sprechmustern in verschiedenen Kulturen. Gelegentlich schreibt er zu gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Themen. Er trötet unter @OliverCzulo@spd.social.

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