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Steht die Rente vor dem Kollaps? Was an dieser Erzählung nicht stimmt

17. December 2025 14:47:57

Die Debatte um die Zukunft der Rente vermittelt den Eindruck, das System stehe vor dramatischen Herausforderungen. Wir erklären, was an der von Konservativen verbreiteten Erzählung falsch ist.

Ist die Stabilisierung der Rente eine Generationenfrage?

Ist die Stabilisierung der Rente eine Generationenfrage? 

Die politische Debatte über den „Rentenkollaps“ hat in diesem Herbst für viel Aufregung gesorgt. 18 Abgeordnete der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion hatten angekündigt, ihre Zustimmung zum Rentenpaket der Bundesregierung zu verweigern. Ein Rentenniveau von 48 Prozent auch über 2031 hinaus würde zu hohe Kosten verursachen und jüngere Generationen belasten, so ihr Argument. Die Kritik der Nachwuchspolitiker wurde begleitet von Statistiken wirtschaftsnaher Forschungsinstitute. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger forderte die Abschaffung der sogenannten Rente mit 63 Jahren und eine längere Lebensarbeitszeit.

Die Realität sieht anders aus: Die gesetzliche Rentenversicherung – für jeden Zweiten in Deutschland die einzige Altersvorsorge – funktioniert und ist deutlich besser als ihr Ruf. Das auf Solidarität basierende System liefert und ist seit der Einführung in den 1890er Jahren stabil. Vor allem lässt es sich immer wieder weiterentwickeln. So beschreiben es Rentenexpert*innen aus verschiedenen Institutionen.

Der Mythos vom „Rentenkollaps“

Wie aber passen diese positiven Einschätzungen zur von Konservativen und Wirtschaftsverbänden befeuerten Debatte, wonach die gesetzliche Rente vor dramatischen Herausforderungen stehe und dem Umlageverfahren wegen des demografischen Wandels ein „Rentenschock“ drohe? Und zu Warnungen, dass immer mehr Steuergelder in die Altersvorsorge flössen und die Staatskasse in den Ruin getrieben werde? Oder zu der Prognose, dass die junge Generation die Kosten für die jetzigen und kommenden Rentnerjahrgänge tragen müsse, selbst aber nicht mehr davon profitieren werde? 

Dina Frommert ärgert es, „wenn ein Kollaps herbeigeredet wird, der sich aus den Zahlen nicht ableiten lässt“. Die Leiterin der Abteilung Forschung und Entwicklung der Deutschen Rentenversicherung Bund räumt mit dem Mythos auf, dass die Rente immer teurer wird. In einer sich entwickelnden Volkswirtschaft sei es wenig sinnvoll, bei solchen Rechnungen mit Nominalbeträgen zu argumentieren, die nicht an die Inflation angepasst sind, so die Sozialwissenschaftlerin.

Anteil der Bundeszuschüsse sank

Betrachte man hingegen die Ausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, sei der Anteil der Bundesmittel und Bundeszuschüsse zwischen 2002 und 2024 nicht gestiegen, sondern leicht gefallen. Demnach sank der Anteil der Bundeszuschüsse an den Ausgaben der Rentenversicherung zwischen den Jahren 2005 und 2024 von 24 auf 22,1 Prozent. Frommert weist darauf hin, dass Bundeszuschüsse, die im Jahr 2023 ungefähr 84 Milliarden Euro umfassten, vor allem der Finanzierung von nicht beitragsgedeckten Leistungen dienten. 

Quelle: DRV

Finanziert werden dadurch beispielsweise die Angleichung der abweichenden Werte für die Berechnung der Renten in Ostdeutschland an die Westrenten oder auch die sogenannte Mütterrente, mit der Erziehungszeiten für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, anerkannt werden. Dabei handelt es sich also nicht um Subventionen der Rentenversicherung, sondern um die Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, betont Frommert. 

Nicht der erste demografische Wandel

Auch mit dem Mythos demografischer Wandel räumt sie auf. Eine solche Entwicklung sei für die gesetzliche Rentenversicherung nichts Neues. Dennoch werde diese Debatte „derzeit mit großer Dramatik inszeniert“, sagt sie. Bereits Mitte der 1930er Jahre habe sich „ein Herr Gustav Hartz“ gefragt, wer die Renten zahle, wenn man immer älter werde. Das Magazin „Spiegel“ habe in den 1980er Jahren getitelt: „Wer zahlt im Jahr 2000 die Renten?“ Die Rentenversicherung sei vorbereitet, auch weil es zwischen 1990 und 2010 extreme Alterungsschübe gab, so Frommert. Das bedeute zwar, dass finanzielle Mittel knapper würden. Deswegen werde laut Vorausberechnungen der Beitragssatz zur Rentenversicherung ab 2028 steigen, es wäre aber der erste Anstieg seit 2007. 

Auch Ulrike Stein, Rentenexpertin beim Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, geht davon aus, dass die Rentenbeiträge und auch der Bundeszuschuss leicht klettern werden. Zugleich sieht sie die Gefahr, dass das Rentenniveau dramatisch sinkt. Dieses lag im Jahr 2011 noch bei mehr als 50 Prozent und beträgt inzwischen nur noch 48 Prozent. Dort verharrt es seit 2019, weil sich die SPD in der Regierung, wie zuletzt, dafür starkgemacht hat, dass es nicht weiter sinken darf. Die Ökonomin fürchtet ein Absinken um weitere drei Prozentpunkte in den kommenden 15 Jahren, „wenn wir jetzt nicht gegensteuern“. 

Schon 48 Prozent Rentenniveau ist wenig

Das hätte Folgen: Laut Stein wären vor allem Personen mit niedrigem Einkommen davon betroffen, die häufig keine weitere Altersvorsorge hätten. Mit Konsequenzen: „Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Absenkung des Rentenniveaus und der Erhöhung der Armutsgefährdung“, so die Forscherin. Geht das Rentenniveau weiter zurück, würden mehr Menschen in die Grundsicherung rutschen. Aus Sicht der öffentlichen Kassen wäre nichts gewonnen, auch wenn an Bundeszuschüssen gespart würde. Denn das „kostet an anderer Stelle Geld“, erklärt sie. 

Quelle: DRV

Und selbst ein Rentenniveau von 48 Prozent ist für viele Menschen mit Einschränkungen verbunden. Die fiktive Standardrente eines Versicherten nach 45 Beitragsjahren mit stets durchschnittlichem Verdienst lag im Jahr 2024 bei 1.769 Euro. Davon verbleiben nach Abzügen von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie Steuern rund 1.500 Euro netto. Dieser Betrag entspricht aber nicht der tatsächlichen Durchschnittsrente.

Höherer Mindestlohn für armutsfeste Rente 

Der Autor und Rentenberater Peter Knöppel schreibt in seinem Beitrag für „rentenbescheid.de“, dass Arbeitnehmer*innen, die 45 Jahre lang zum Mindestlohn von 15 Euro arbeiten, nach 45 Beitragsjahren über eine Rente von 1.136 Euro brutto verfügen. Nach Abzug von Sozialbeiträgen blieben davon weniger als 1.000 Euro netto. Seinen Berechnungen zufolge wäre für eine armutsfeste Rente ein Mindestlohn von 21 Euro nötig, da die Schwelle der Armutsgefährdung im Jahr 2025 bei 1.380 Euro netto pro Monat liegt. 

Zu glauben, diese Armutsgefährdung könne durch den Einstieg in eine privat finanzierte Alterssicherung aufgefangen werden, ist trügerisch. Auch wenn die Erzählung, die Rentenversicherung sei nicht mehr finanzierbar, die Entwicklung hin zu mehr privater Altersvorsorge vorantreibt. Viele würden gewinnen, so heißt es. Vielmehr ist es aber so, dass die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung – im vergangenen Jahr rund 402 Milliarden Euro – Begehrlichkeiten wecken, vor allem bei der privaten Versicherungswirtschaft. 

Arbeitsmarkt entscheidender als Geburtenzahlen

Mit mehr privater Vorsorge könnten sich zugleich Arbeitgeber schleichend aus der Solidargemeinschaft verabschieden, wenn die Beitragssätze, an deren Finanzierung sie paritätisch beteiligt sind, sich dadurch nicht weiter erhöhen oder sogar sinken. Die Versicherten hingegen hätten das Nachsehen, wie Andreas Irion, der Präsident des Bundesverbandes der Rentenberater, sagt. Er betont einen klaren Vorteil der gesetzlichen Rentenversicherung: „In den vergangenen Jahren sind die Renten mehr gestiegen als prognostiziert. Diesen indirekten Inflationsschutz unterschätzen die Leute und wissen gar nicht, was er wert ist, gerade im Vergleich mit privaten Versicherungen.“

Wie auch immer die Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung in Zukunft aussehen werden, ohne eine armutsfeste Alterssicherung als Ziel wird es aus Sicht der Sozialdemokratie nicht gehen. Und wie auch immer die Maßnahmen aussehen, die dorthin führen, sie sollten aus Sicht von Rentenexpert*innen unabhängig von der Geburtenrate überlegt werden. Diese wird oft bemüht, um den angeblichen Kollaps der Rente herbeizureden. 

Tanja Machalet

Ein dauerhaft stabiles System entsteht nicht durch Leistungskürzungen.

Tatsächlich spielt die Geburtenrate zur Stabilisierung der Rentenversicherung eine eher untergeordnete Rolle. Entscheidend für die Beitragseinnahmen sei vielmehr die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. „Die Rentenversicherung ist darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen in Lohn und Brot sind und auch entsprechende Lohnsteigerungen haben“, erklärt Frommert. „Es hilft, wenn neue Beschäftigte hinzukommen.“ Zum Beispiel Frauen, die bislang nicht berufstätig sind.

Beschäftigungszahlen gestiegen

Und auch Migration in den Arbeitsmarkt trage zur Stabilisierung bei. „Durch Zuwanderung, insbesondere aus den europäischen Ländern, ist die Anzahl an versicherungspflichtiger Beschäftigung in den vergangenen Jahren gestiegen“, bilanziert Frommert. Stein betont, dass der Effekt, dass es immer weniger junge Menschen gebe und gleichzeitig immer mehr Ältere, in den letzten zwei Jahrzehnten durch höhere Erwerbstätigenquoten ausgeglichen werden konnte. Doch gebe es Luft nach oben. Zu viele junge Menschen hätten weder einen Schulabschluss noch eine abgeschlossene Berufsausbildung und damit schlechtere Chancen auf einen gut bezahlten Job. Dieses Potenzial müsse gehoben werden, auch zugunsten des Rentensystems, fordert Stein. 

Erhöhen ließe sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aber auch, indem zum Beispiel auch Selbstständige, Abgeordnete oder Beamte in die Rentenkasse einzahlen. Diese Idee ist nicht neu. Die SPD-Vorsitzende Bärbel Bas hatte dafür kurz nach ihrem Amtsantritt als Bundesarbeitsministerin geworben. Es gibt weitere Stellschrauben im System. Der Beitragssatz ließe sich erhöhen. Irion hält dies für „recht unkompliziert“. In Österreich liege der Satz bei 22,8 Prozent, in Deutschland bei 18,6 Prozent. Die Vorstellung, dass er auf 22 Prozent ansteigen könnte, werde „mit Horrorszenarien verknüpft“, kritisiert er.

Eine Studie der IG Metall zeigt hingegen, dass Beschäftigte in der Mehrheit bereit wären, für höhere Rentenansprüche Zusatzbeiträge einzuzahlen. Zwei Drittel der Befragten (67 Prozent) sind dafür, dass Rentenniveau anzuheben, auch wenn das höhere Beiträge bedeuten könnte. Gleichzeitig gibt mehr als die Hälfte (53 Prozent) an, dass sie nicht glaubt, unter ihren gegenwärtigen Arbeitsbedingungen bis zum 67. Lebensjahr arbeiten zu können.

Höhere Lebensarbeitszeit

Damit stellt sich die Frage, wie realistisch es ist, die Lebensarbeitszeit weiter zu erhöhen: Bei einer Rente mit 70, gekoppelt mit der Abschaffung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren würde das System billiger, erklärt Florian Blank vom Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Doch noch mehr Menschen würden Probleme haben, das Renteneintrittsalter zu erreichen. Für Arbeitgeber sehe das schon besser aus: „Ihnen würden Arbeitskräfte länger und dann noch mit einem niedrigeren Beitragssatz in der Rentenversicherung zur Verfügung stehen.“ Blank sieht genau hier eine Verteilungsfrage, die nicht zwischen Jung und Alt verlaufe, sondern alle Generationen betreffe. 

Die Rentenkommission, die Anfang des neuen Jahres ihre Arbeit aufnehmen soll, um bis Mitte 2026 Vorschläge für die Finanzierung der gesetzlichen Rente zu entwickeln, wird mit diesen und weiteren Interessenkonflikten arbeiten müssen. Die Erwartungen sind hoch. „Es braucht einen Kraftakt, diese Reformen zu erstreiten und umzusetzen“, so Carl Mühlbach und Pippa Kolmer von der Nichtregierungsorganisation Fiscal Future.

Aus Sicht der SPD-Bundestagsabgeordneten Tanja Machalet schwingt in der Debatte noch etwas anderes mit. Viele Angriffe auf das Rentenpaket kämen aus politischen Richtungen, die grundsätzlich einen geringeren Umfang sozialstaatlicher Leistungen befürworteten. Für die frühere rentenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion ist klar, dass ein dauerhaft stabiles System nicht durch Leistungskürzungen entsteht, „sondern indem es breiter und gerechter aufgestellt wird“.

Autor*in
Nils Michaelis ist Redakteur des vorwärts
Nils Michaelis

ist Redakteur des vorwärts.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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