Ökonomin Ulrike Stein: „Rentensystem ist kein dringender Sanierungsfall“
Die gesetzliche Rente hat kein Kosten-, sondern ein Imageproblem, sagt Rentenexpertin Ulrike Stein. Die Ökonomin kritisiert ein „Rentenbashing von vielen Seiten“ und fordert: Die Politik muss dafür sorgen, dass höhere Einnahmen in das Versicherungssystem fließen.
IMAGO/Wolfilser
Wie viel werden Rentner*innen künftig in der Tasche haben? Eine von vielen Fragen rund um die Zukunft der gesetzlichen Rente.
Mit dem Rentenpaket der Bundesregierung gibt es zumindest etwas Klarheit: Bis zum Jahr 2031 bleibt das Niveau der gesetzlichen Rente bei rund 48 Prozent. So sieht es das am 5. Dezember vom Bundestag beschlossene Gesetz vor.
Doch die Debatte über die Zukunft der Rente geht längst weiter. Während in Unionskreisen immer wieder Forderungen nach mehr privater Vorsorge laut werden, setzt die SPD auch weiterhin zuallererst auf die gesetzliche Rentenversicherung. Und das aus gutem Grund, wie Ulrike Stein, Rentenexpertin beim Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, im Interview erklärt.
Wie erleben Sie die politische Debatte über die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland?
Ich finde sie schockierend, weil man zunehmend den Eindruck bekommt, dass die Rente als soziale Wohltat gesehen wird. Die Rente ist aber keine Sozial-, sondern eine Versicherungsleistung. Das Rentensystem ist kein dringender Sanierungsfall, der Kürzungen nötig hat. In der Vergangenheit gab es deutlich höhere Beitragssätze und der Anteil der steuerfinanzierten Rentenausgaben des Bundes lag, gemessen an der Wirtschaftskraft, deutlich über dem heutigen.
Ein Absinken des Rentenniveaus träfe besonders niedrige Einkommen
Dennoch sehen auch Sie Reformbedarf. Was sind die die zentralen Baustellen?
Weil demnächst die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird es in den kommenden zehn bis 15 Jahren einen sogenannten Demografieberg geben. Werden keine Maßnahmen ergriffen, werden die Rentenbeiträge und der Bundeszuschuss sicherlich leicht steigen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass das Rentenniveau dramatisch sinkt. Letzteres wäre problematisch, denn es ist seit den 70er-Jahren, als es knapp 60 Prozent betrug, bereits deutlich zurückgegangen. 2011 lag es noch bei mehr als 50 Prozent, inzwischen nur noch bei 48 Prozent.
Wenn wir jetzt nicht gegensteuern, könnte es im genannten Zeitraum um weitere drei Prozentpunkte fallen. Das würde vor allem Personen mit niedrigem Einkommen treffen, die häufig keine weitere Altersvorsorge haben. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Absenkung des Rentenniveaus und der Erhöhung der Armutsgefährdung. Sinkt das Rentenniveau weiter ab, werden mehr Menschen in die Grundsicherung rutschen. Aus Sicht der öffentlichen Kassen wäre damit nichts gewonnen. Man würde das Problem lediglich verlagern.
Stichwort Demografie: Irgendwann werden die „Babyboomer“ aus dem System herausfallen. Wird der Demografieberg sozusagen aus biologischen Gründen von selbst verschwinden?
Erhebungen legen nahe, dass wir etwa ab 2036/37 bis in die frühen 2050er-Jahre eine stabile Bevölkerungsentwicklung haben werden. Im Gegensatz zu heute wird die Gesellschaft in diesem Zeitraum also nicht weiter altern und danach allenfalls nur leicht. Es geht darum, diesen einen Berg zu meistern, wie es in der Vergangenheit bei zwei weiteren Anstiegen der Rentner*innen gelungen ist.
Ulrike Stein
Die Rente ist keine Sozial-, sondern eine Versicherungsleistung.
Wäre es hilfreich, sich an den Rezepten von damals zu orientieren?
Die Steigerung der Erwerbstätigungsquote hat sich bereits ab den 2000er-Jahren bewährt. Tatsächlich kommt es nämlich nicht auf den Altenquotient, also das Verhältnis zwischen Personen im erwerbstätigen Alter und den Rentnern, an. Letztendlich ist entscheidend, wie hoch die Zahl derer ist, die die Beiträge bezahlen, und derer, die Renten erhalten. Diese ökonomische Abhängigkeitsquote hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten komplett anders entwickelt als der Altenquotient, gerade weil die Erwerbstätigkeit deutlich gesteigert werden konnte.
Was heißt das konkret?
Es gibt immer weniger junge Menschen, gleichzeitig immer mehr Ältere. Durch die höheren Erwerbstätigenquoten ist das Beitragsaufkommen in den letzten zwei Jahrzehnten aber stark gestiegen und konnte diesen Effekt ausgleichen. Bei der Finanzierbarkeit der Rente geht es darum, möglichst viele Menschen im Arbeitsmarkt und möglichst viele Beitragszahlende in der Rentenversicherung zu haben. Man sollte die Quote der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten erhöhen. Und auch Selbstständige und Abgeordnete in die Rentenkasse einzahlen lassen.
Hoffnung auf das Inverstitionsprogramm der Bundesregierung
Um das System zu stabilisieren, fordern Sie, die Einnahmeseite besser aufzustellen, etwa durch mehr Wirtschaftswachstum oder durch gute Löhne und Gehälter. Wo sollte die Bundesregierung zuerst ansetzen?
Für einen großen Wurf braucht es nicht eine, sondern mehrere Maßnahmen. Das Investitionsprogramm des Bundes sollte zügig und nachhaltig umgesetzt werden, das würde die Wirtschaft wieder ankurbeln. Die seit Jahren steigenden Erwerbstätigenquoten sollte man auch künftig erhöhen. Gerade bei Frauen gibt es viel Potenzial. Dafür braucht es eine verlässliche Kinderbetreuung, gerade auch an Schulen.
Man muss aber auch die Infrastruktur bei der Pflege verbessern, damit Pflegende besser am Arbeitsmarkt teilhaben können. Zudem hat ein hoher Anteil der jungen Menschen weder einen Schulabschluss noch eine abgeschlossene Berufsausbildung. Da verschenken wir enorm viel Potenzial.
Bei den Älteren sind die Erwerbstätigen-Quoten in den letzten Jahren besonders deutlich geklettert, aber auch dort gibt es noch Luft. Einerseits fordern die Arbeitgeber, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Andererseits bieten viele Unternehmer immer noch Altersteilzeit-Programme oder Abfindungen in den Ruhestand an. Das ist ein Widerspruch.
Ulrike Stein
Bei der Finanzierbarkeit der Rente geht es darum, möglichst viele Menschen im Arbeitsmarkt und möglichst viele Beitragszahlende in der Rentenversicherung zu haben.
Warum wird in der Rentendebatte so wenig über die Einnahmeseite gesprochen?
Weil es ein schwieriges Thema ist. Man hört oft das Argument, im Bundeshaushalt seien so viele Ausgaben vorbestimmt, dass man gar keinen Gestaltungsspiel mehr habe. Wenn man argumentiert, der Rentenanteil im Bundeshaushalt sei zu hoch, kann das darauf hindeuten, dass der Bundeshaushalt für die anliegenden Aufgaben zu klein ist. Gerade in den Zeiten, wo enorme Ausgaben für Verteidigung, Klimaschutz und die marode Infrastruktur notwendig sind.
Wäre es ein Weg, die Beitragsbemessungsgrenze zu erhöhen?
Das wäre eine diskutable Möglichkeit. Schätzungen gehen von zusätzlichen Einnahmen zwischen drei und fünf Milliarden Euro aus. In erster Linie wäre es aber ein symbolischer Schritt, denn so würde es auch zu höheren Rentenanwartschaften kommen. Wer mehr einzahlt, erwirbt auch höhere Ansprüche.
Weit entfernt von einer lebensstandardsichernden Rente
Die Junge Gruppe in der Unionsfraktion hat vor der Abstimmung über das Rentenpaket der Bundesregierung gefordert, den Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rente ab 2032 wieder einzuführen. Das würde bedeuten, dass sich das Rentenniveau um ein Prozent verringert. Inwiefern würde dieses Minus stabilisierend wirken?
Weniger Rentenzahlungen bedeutet natürlich, dass weniger Bundeszuschüsse gebraucht werden. Aber das kommt mit Nebenwirkungen: Mehr Rentner*innen wären auf die Grundsicherung angewiesen. Und das kostet an anderer Stelle Geld. Außerdem hätten alle Rentner*innen weniger Geld und damit einen niedrigeren Lebensstandard
Laut einer Auswertung des IMK ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschland aktuell so hoch wie nie. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind die Ausgaben im Sozialbereich, also auch für die Rente, hingegen niedriger als vor 15 Jahren. Hat die Rentenversicherung also kein Kosten-, sondern ein Imageproblem?
Ja, das würde ich so sehen. Wir erleben ein Renten-Bashing von vielen Seiten. Es ist gut, dass sich die SPD für die Rente und ein stabiles Rentenniveau einsetzt und dass sie um Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung wirbt. Als das Umlageverfahren eingeführt wurde, hat man den Menschen versprochen, sie würden eine lebensstandardsichernde Rente bekommen. Davon sind wir inzwischen weit entfernt, dafür braucht es zusätzlich die betriebliche und private Vorsorge. Aber ein Mindestmaß an Lebensstandardsicherung sollte mit der gesetzlichen Rente schon erreicht werden.
Urike Stein
Ich hoffe, dass die Koalition oder die Rentenkommission eine umfassende Reform hinbekommt und darauf hinarbeitet, das Rentensystem zu stärken, anstatt es auszuhöhlen und weiter zu schwächen.
Wie hoffen Sie, dass es um die Rentenversicherung steht, wenn Sie selbst das Rentenalter erreicht haben werden?
Für alle anderen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten wünsche ich mir, dass das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent bleibt. Davon würden auch künftige Generationen profitieren. Ich würde mir wünschen, dass wir dieses an sich gute System nicht schwächen, sondern dank einiger Stellschrauben so anpassen, dass sich der Demografieberg überwinden lässt.
Denken Sie, dass der Politik dies gelingen wird?
Ich bin ein positiv denkender Mensch. Daher hoffe ich, dass die Koalition oder die Rentenkommission eine umfassende Reform hinbekommt und darauf hinarbeitet, das Rentensystem zu stärken, anstatt es auszuhöhlen und weiter zu schwächen.
Die Ökonomin Ulrike Stein ist Expertin für Renten, Löhne und Einkommensverteilung beim Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.