Film „Die Möllner Briefe“: „Die Ideologie der AfD hat eine Vorgeschichte“
Der Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ erzählt von den Traumata der Überlebenden des Brandanschlags von Mölln. Im Interview sprechen der Hinterbliebene Ibrabahim Arslan und Regisseurin Martina Priessner über strukturellen Rassismus und was Filme dagegen bewirken können.
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Mölln, im Jahr 2022: Ibrahim Arslan bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Brandanschlags.
Eine Stadt wurde zum Symbol: In der Nacht zum 23. November 1992 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf zwei von türkischstämmigen Familien bewohnte Häuser in Mölln (Schleswig-Holstein). Dabei kamen drei Menschen ums Leben: Bahide Arslan und ihre Enkeltochter Yeliz sowie deren Cousine Ayse.
Nach der Mordtat hätten sich die Überlebenden mehr Solidarität gewünscht. Was sie nicht wussten: Hunderte Menschen hatten Briefe und Geschenke für sie an die Stadtverwaltung von Mölln geschickt, weil sie selbst in Notunterkünften waren. Doch sie verschwanden dort im Archiv. Erst knapp drei Jahrzehnte später wurden sie entdeckt und den Hinterbliebenen übergeben.
Ibrahim Arslan, der Enkelsohn von Bahide Aslan, überlebte den Anschlag als Siebenjähriger. Der bei der Berlinale ausgezeichnete Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ zeigt, wie jene Mordnacht, aber auch empathielose Behörden, das Leben seiner Familie bis heute überschatten. Und was ihn antreibt, als Aktivist andere Betroffene von rechtsextremer Gewalt zum Sprechen zu bringen.
Herr Arslan, im Film geht es um die Bedeutung von Solidarität. Was hätte es Ihnen und Ihrer Familie bedeutet, wenn Sie die Briefe, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden, schon kurz nach dem Brandanschlag hätten lesen können?
All diese Solidaritätsbekundungen, Hilfsangebote oder auch Kinderzeichnungen hätten uns damals immens bei der Traumabewältigung geholfen. Einige der Menschen, die uns geschrieben haben, hatten Ähnliches erlebt, etwa Rassismus im Alltag. Auch einige Überlebende der Shoah hatten versucht, sich an uns zu wenden. Auch für die gedenkkulturelle Arbeit hätten wir daraus viel mitnehmen können.
Was sagt dieses empathielose Vorgehen der Verwaltung über die damalige deutsche Gesellschaft aus?
Es zeigt, wie der Verwaltungsapparat in Deutschland läuft und wie institutioneller Rassismus funktioniert. Und dass Empathielosigkeit dort vorkommt, wo eine eigene Betroffenheit ausgeschlossen ist. Anders gesagt: Hätte sich der Brandanschlag gegen eine weiße deutsche Familie gerichtet, wären die Briefe den Betroffenen sofort übergeben worden.
Ibrahim
Arslan
Hätte sich der Brandanschlag gegen eine weiße deutsche Familie gerichtet, wären die Briefe den Betroffenen sofort übergeben worden.
Sind die strukturellen Probleme beim Umgang mit Menschen geblieben, die von rechter Gewalt betroffen sind?
Es ist ein ewiger Marathon für Betroffene, ihre Perspektiven in den Vordergrund zu holen. Sie bekommen keinerlei Unterstützung, schon gar nicht von politischen Parteien. Es gibt nicht mal Strukturen für Betroffene. Das ist ein beschämendes Armutszeugnis. Betroffene müssen ehrenamtlich im Bildungssystem arbeiten, um etwas zu bewirken. Wenn sich etwas im positiven Sinne geändert hat, dass also etwa Politiker genauer hinschauen, dann ist dies allein das Verdienst der Opfer.
Bei früheren Gedenkveranstaltungen in Mölln haben Sie und andere Hinterbliebene sich außen vor gefühlt und jährlich eine „Möllner Rede im Exil“ veranstaltet. Im Film ist zu sehen, dass Sie in Mölln im Jahr 2022 erstmals miteinbezogen wurden.
Wir wurden nicht seitens der Stadtverwaltung eingeladen, uns einzubringen, wir haben dies eingefordert. All die Jahre haben wir immer wieder erklärt, dass die Hinterbliebenen keine Statisten, sondern die Hauptzeugen sind, die gehört werden müssen und in den Vordergrund gehören. Der Möllner Bürgermeister war solidarisch, aber erst wir haben ihn dazu gebracht. Uns auch 2023 zur Gedenkveranstaltung einzuladen, blieb allerdings ein leeres Versprechen.
Martina
Priessner
Dass sich die Gesellschaft nicht stärker mit Ibrahim Arslan und anderen Opfern rassistischer Gewalt solidarisiert, ist beschämend.
Zum fünften Jahrestag der Anschläge von Hanau haben Sie von der Politik gefordert, Institutionen zu schaffen, um Opfer in eine gesellschaftliche Erinnerungskultur zum Rechtsextremismus einzubinden. Was schwebt Ihnen vor?
Ich mache diese politische Arbeit für ein angemessenes Gedenken bis heute ehrenamtlich neben meinem Hauptjob. Damit meine ich Bildungsarbeit in Schulen, Empowerment-Workshops und Vernetzungsarbeit für Betroffene bundesweit. Dafür gibt es keine Strukturen. Das sagt wohl alles. Wenn Politikerinnen und Politiker nicht endlich verstehen, dass Betroffene an der gedenkkulturellen Arbeit teilhaben müssen, wird sich in diesem Land nichts verändern.
Im Jahr des Anschlags spielten rechtsextreme Parteien in deutschen Parlamenten kaum eine Rolle. Das ist heute anders. Haben Sie Angst, dass ihr Engagement gegen rechts umsonst war?
In etablierten Parteien wie der CDU gab es damals Raum für Rechtspopulismus. Helmut Kohls Bundesregierung hat das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. Das zeigt, dass die heute von der AfD vertretene Ideologie eine Vorgeschichte hat. Mein Engagement richtet sich nicht primär gegen rechte Gewalt, vielmehr ist es Arbeit von Betroffenen für Betroffene. Ich möchte diese Menschen empowern. Warum sollte dies umsonst sein?
Wie erleben Sie den Rechtsruck in Deutschland?
Migrantisch gelesene Personen wie ich sind permanent und waren schon immer von strukturellem, institutionellem und gesellschaftlichem Rassismus betroffen. Die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem hat an unserer Lage und an unseren Widerständen nichts geändert. Was meiner Familie widerfahren ist, wäre auch heute möglich.
Frau Priessner, wie haben Sie es geschafft, diesen aufwühlenden Stoff in so ruhiger Weise zu erzählen?
Es lag auch an der Entscheidung, ausschließlich bei der Perspektive der Hinterbliebenen zu bleiben, bei ihrem Weiterleben mit dem Trauma. Ich habe versucht, zuzuhören und einen Raum zu schaffen, anstatt dem Ganzen irgendeine Form überzustülpen. Ich bin den Menschen sehr nahegekommen und sie haben sich geöffnet, soweit es Ihnen möglich war. Es gab Momente, wo wir alle geweint haben.
Bei der visuellen Herangehensweise war schnell klar, dass sie auf jeden Fall beobachtend, ruhig, und zurückgenommen sein soll, wir den Menschen aber dennoch so nah wie möglich kommen wollten, ohne eine Retraumatisierung zu riskieren.
Wie fanden Sie zu den Bildern, um die Traumata der Überlebenden, insbesondere der beiden unterschiedlich gelagerten Brüder, abzubilden?
Ich habe nur zugehört und bin ihnen völlig offen begegnet. Das war ein vier Jahre währender, aber durchweg sehr fragiler und auf gewachsenem Vertrauen beruhender Prozess. Alle konnten während der Dreharbeiten mitentscheiden, mir ging es um maximale Transparenz. Erinnern heißt auch Handeln und Verantwortung übernehmen, ich habe diesen Ansatz sehr ernstgenommen. Zugleich wollte ich vermitteln, wie unfassbar stark die Protagonist*innen sind und dass sie unermüdlich kämpfen.
Kurz vor „Die Möllner Briefe“ ist das „Das Deutsche Volk“ über die Hinterbliebenen von Hanau im Kino angelaufen. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass solche Filme ein Bewusstsein für die Erfahrungen und die Sichtweise der Hinterbliebenen von Opfern rechter Gewalt schaffen?
Diese Filme müssen gesehen werden, weil ihre Geschichten in der deutschen Geschichtserzählung und in den Schulbüchern fehlen. Die Diskurse sind sehr stark vom Narrativ „Wir gegen die“ geprägt. Als Filmemacherin kann ich lediglich Einblicke geben oder eine Tür öffnen.
Die aktuelle Lage ist besonders bedenklich. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sitzt eine Partei im Bundestag, die den verlängerten Arm der Rechtsextremist*innen und Nazis darstellt. Für mich ist aber nicht die AfD das Hauptproblem, sondern die Haltungslosigkeit der anderen Parteien und das Übernehmen rechter Narrative. Würden sie das nicht tun, wären wir an einem anderen Punkt. Dass sich die Gesellschaft nicht stärker mit Ibrahim Arslan und anderen Opfern rassistischer Gewalt solidarisiert, ist beschämend.
Der Film pendelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wird aber aus dem Jetzt heraus erzählt. Wie haben Sie das Trauma von Mölln ins Heute geholt?
Durch die Kontinuität rechtsextremer Anschläge in Deutschland hat sich das von selbst ergeben. Die frühen 90er-Jahre waren eine unfassbar gewaltvolle Zeit – Menschen wurden fast täglich angegriffen, von Hoyerswerda bis Rostock, von Mölln bis Solingen. Doch diese Gewalt ist kein abgeschlossenes Kapitel. Die Spuren führen direkt in die Gegenwart – zu den NSU-Morden, zu Halle, Hanau oder München.
Es geht in meinem Film nicht nur um ein historisches Ereignis, sondern um die langfristigen Folgen für die Betroffenen. Um Wunden, die nie ganz heilen – und eine Gesellschaft, die sich oft mehr für die Täter interessiert als für die Opfer. Die Tatsache, dass die Solidaritätsbriefe jahrzehntelang unbeachtet blieben, macht diese Geschichte so gegenwärtig: Sie steht exemplarisch für das, was oft schiefläuft im Umgang mit rassistischer Gewalt – damals wie heute.
„Die Möllner Briefe“ (Deutschland 2025), ein Film von Martina Priessner, mit Ibrahim Arslan u.a., 96 Minuten
Im Kino
Weitere Informationen unter www.realfictionfilme.de