Kultur

Film „Das Deutsche Volk“: Wofür die Angehörigen der Opfer von Hanau kämpfen

Aus Trauer wurde Widerstand gegen das Vergessen: Der Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“ erzählt von den Hinterbliebenen der Opfer des Anschlags von Hanau. Und er stellt unbequeme Fragen an das Einwanderungsland Deutschland.

von Nils Michaelis · 5. September 2025
"Das deutsche Volk": Beim Anschlag in Hanau verlor Emis Gübrüz ihren Sohn Sedat

Bei dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 verlor Emis Gübrüz ihren Sohn Sedat.

Für Ajla Kühn ist Trauer ein wohl nie endender Prozess. „Mal fühle ich mich besser, mal erstickt es mich fast“, sagte sie im Februar 2024 der „Frankfurter Rundschau“ (FR). Damals jährte sich der rechtsterroristische Anschlag von Hanau zum vierten Mal. 

Ajla Kühn kämpft für Aufklärung und Konsequenzen

Am 19. Februar 2020 erschoss der Rechtsextremist Tobias Rathjen neun Menschen mit Migrationsgeschichte, danach seine Mutter und sich selbst. Eines der Opfer war Kühns Bruder Hamza Kurtovic. Mit ihrem Vater kämpft die 29-Jährige für Aufklärung und Konsequenzen aus der Tat. „Kraft geben uns die vielen Menschen, die Anteil nehmen, uns unterstützen. Und das, was wir erreicht haben“, so Kühn gegenüber der FR.

In Kühns Worten verdichtet sich ein Drama zwischen Ohnmacht und Aufbruch, das acht weitere Familien seit jener Bluttat durchlebt haben. Nicht nur, dass junge Menschen aus rassistischen Motiven ermordet wurden. Hinzu kam, dass ihre Hinterbliebenen im Nachgang ebenfalls Diskriminierung seitens der Polizei erfuhren. Anstatt sich jedoch einschüchtern zu lassen, drehten die Familien den Spieß um. Sie trieben die Aufklärung der Tat und ihrer Hintergründe voran und kämpfen bis heute für ein angemessenes Gedenken.

Von ihrem Leid, aber auch von ihrer Entschlossenheit erzählt der Dokumentarfilm „Das Deutsche Volk“. Vier Jahre lang begleitete der Regisseur Marcin Wierzchowski Eltern und Geschwister. Schon am ersten Tag nach der Mordserie griff er zur Kamera und hielt den Schmerz und die Fassungslosigkeit der Familien fest. Viele von ihnen konnten anfangs nicht einmal angemessen trauern, weil ihnen tagelang der Zugang zu den sterblichen Überresten ihres Kindes verwehrt wurde und diese, ohne ein Einverständnis der Angehörigen einzuholen, obduziert wurden.

Hinterbliebene fühlten sich als Bürger*innen zweiter Klasse

Geschockt waren sie auch darüber, dass sie sich nach vielen Jahren in Deutschland ausgegrenzt und als Bürger*innen zweiter Klasse gefühlt haben. Nicht zuletzt wegen der kruden „Botschaft an das gesamte deutsche Volk“, die der Mörder zuvor im Internet veröffentlicht hatte. Darin rief er unter anderem zum „Krieg gegen die Degeneration unseres Volkes“ auf. 

Die Langzeiterzählung macht zudem anschaulich, wie aus der traumatischen Erfahrung etwas Neues erwuchs. Bei regelmäßigen Treffen in einer Begegnungsstätte gaben sich Angehörige gegenseitig Kraft und entwickelten dabei eine aktivistische Agenda. Mit eigenen Recherchen und juristischen Mitteln füllten sie einige Leerstellen, die die Rekonstruktion der Tat und des dilettantischen Agierens der Polizei seitens staatlicher Stellen hinterlassen hat. Obendrein legten sie den strukturellen Rassismus in Polizei und Verwaltung offen.

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Aus spontanen Trauerkundgebungen formierte sich das Bündnis #SayTheirNames, das sich dafür einsetzt, im Gedenken an die neun Opfer nicht nachzulassen und andere Initiativen dazu einlädt, sich gemeinsam für ein demokratisches und vielfältiges Hanau zu engagieren.

Angehörige und Politiker*innen: Zwei Welten prallen aufeinander

Um die Erfahrungen und Intentionen der Hinterbliebenen in den Fokus zu rücken, erzählt der Film all dies konsequent aus deren Perspektive. Die Szenen, in den Politiker*innen hinzukommen, fühlen sich an wie ein Zusammenprall zweier Welten. Immer wieder ist die Enttäuschung der Familien über die Begegnungen spürbar, besonders im Fall von Hessens früherem Innenminister Peter Beuth. Im Zusammenhang mit der Hanauer Mordnacht hat der CDU-Politiker von „exzellenter Polizeiarbeit“ gesprochen. 

Die Realität sah anders aus: Das polizeiliche Notrufsystem hatte versagt und das Sondereinsatzkommando war von Rechtsextremist*innen durchsetzt. Hätte man den Täter früher stoppen können? Auch diese Frage, die die Angehörigen bis heute quält, wird immer wieder aufgeworfen.

Wer gehört zu Deutschland? Und wer nicht? Und was sagt das, was in Hanau geschehen ist, über dieses Land aus? Diese Fragen, mit der sich die Hinterbliebenen der Mordopfer auf brutalste Weise konfrontiert sahen, stellt auch der Film in den Mittelpunkt. 

Jahrelanger Streit um ein Mahnmal in Hanau

Er liefert keine endgültigen Antworten, skizziert aber die Baustellen, die die Einwanderungsgesellschaft noch immer nicht bewältigt hat. Deutlich wird dies anhand der Debatte über ein Mahnmal für den Anschlag in Hanau. Die Angehörigen hätten sich gewünscht, dass es im Herzen der Stadt, nämlich auf dem Markplatz, errichtet wird. Die Stadtverwaltung wehrte sich dagegen, ohne überzeugende Argumente zu liefern. Mittlerweile wurde eine Art Kompromisslösung gefunden, doch der jahrelange Streit hat Spuren hinterlassen.

Marcin Wierzchowskis Film, der kurz vor dem fünften Jahrestag des Anschlags auf der Berlinale lief, zeigt, welche Gefahren drohen, wenn Rechtsextremist*innen ihren Worten Taten folgen lassen. In vielerlei Nuancen macht der in Schwarz-Weiß gedrehte Film, der stets ganz nah bei den Betroffenen bleibt, das individuelle Leid, das hinter dem kollektiven Albtraum steckt, erfahrbar. Was bleibt, ist aber auch die besondere Kraft von Menschen, die genau auf den Gebieten vollen Einsatz zeigen, wo die eigentlich Verantwortlichen überwiegend keine allzu gute Figur gemacht haben.

„Das Deutsche Volk“ (Deutschland 2025), ein Film von Marcin Wierzchowski, 132 Minuten.

Im Kino

Weitere Informationen unter riseandshine-cinema.de

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