Ukraine-Krieg: Warum es jetzt auf die russischen Gelder ankommt
Russische Gelder als Ukrainehilfe? Was die einen kritisch sehen, wäre für die anderen einen Hebel für mögliche Friedensverhandlungen. Im „vorwärts“-Interview erklärt der Europaabgeordnete Tobias Cremer, worum es in der Debatte geht.
IMAGO/Anadolu Agency
In den vergangenen Wochen wurde viel darüber diskutiert, ob in der EU liegende russische Vermögenswerte für die Ukrainehilfen eingesetzt werden sollten.
Verfolgt man die Debatte der letzten Wochen, so scheint es, als verfüge die Europäische Union über einen bisher ungehobenen Schatz. Denn eingefrorenes russisches Staatsvermögen in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro liegen in der EU, wohl 185 Milliarden Euro davon bei dem belgischen Finanzdienstleister Euroclear. In den vergangenen Wochen wurden diese Summen vor allem für einen Verwendungszweck ins Spiel gebracht: als Ukrainehilfen.
Russische Gelder als Hebel für Friedensverhandlungen?
Mit Blick auf die klammen Kassen vieler EU-Mitgliedstaaten und dem Wegfall der Unterstützung durch die USA könnten die Milliardensummen die Verteidigung der Ukraine maßgeblich stärken und möglicherweise sogar den Weg zu Friedensverhandlungen ebnen. Die EU-Staaten wollen sich in der Frage beim Gipfeltreffen am 18. und 19. Dezember einigen. Insbesondere auf belgischer Seite sind die Unsicherheiten groß – auch weil es historisch keine vergleichbaren Fälle gibt. Der-Europaabgeordnete Tobias Cremer kennt die Details der Debatte.
Was die potenzielle Verwendung russischer Vermögen zur Finanzierung der Ukraine-Hilfen angeht, gibt es große Bedenken von verschiedenen Seiten. Weshalb sollten die Vermögen dennoch verwendet werden?
Es geht dabei vor allem darum, Putins und Trumps Kalkül zu ändern, europäische Handlungsfähigkeit zu beweisen und das russische Geld als Hebel für den Frieden zu nutzen. Aktuell denkt Putin, dass die Zeit auf seiner Seite ist, wenn er den Westen nur dazu bewegen kann die Unterstützung für die Ukraine einzustellen. Davon versucht er auch die USA zu überzeugen. Das ist der Grund, weshalb er jede Friedensinitiative herauszögert und den Konflikt immer weiter eskaliert – er spielt auf Zeit.
Zu richtigen Verhandlungen wird es mit Putin deshalb erst kommen, wenn wir in einer Position der Stärke sind, ihm Entschlossenheit demonstrieren und einen Anreiz setzen können, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Da Amerika diese Arbeit nicht für uns machen wird, braucht die Europäische Union selbst einen Hebel, und die russischen Vermögenswerte wären so ein Hebel. Denn damit wäre klar, dass die Ukraine auf absehbare Zeit verteidigungsfähig bleibt – und zwar unabhängig von den aktuellen Launen im Weißen Haus.
Zumal die russische Wirtschaft momentan auch Schwierigkeiten hat, und nicht klar ist, ob sie es sich leisten können, den Krieg noch über Jahre weiterzuführen. Das hieße dann für Putin, dass er mit jedem Monat Krieg nicht nur mehr und mehr russische Soldaten opfert, die ihn leider nicht sonderlich zu interessieren scheinen, sondern eben auch mehr und mehr Geld verliert, das ihm wohl mehr am Herzen liegt.
Aber die USA unter Donald Trump haben die Unterstützung ja bereits eingestellt.
Genau deshalb wäre die Verwendung der russischen Vermögenswerte auch nicht nur ein wichtiges Zeichen an Putin, sondern auch an Trump, dessen Unterhändler ja selbst schon ein Auge auf die Gelder geworfen haben und diese gerne für eigene Geschäfte nutzen würde. Wenn wir diese Gelder für ein Darlehen an die Ukraine nutzen, wäre das ein Zeichen der Souveränität und Stärke auch gegenüber Trump: Die Verteidigung der Ukraine wäre für die nächsten Jahre durchfinanziert und die Gelder ständen für Trump-Putin‘schen Business Deals auf Kosten Europas nicht zur Verfügung.
Tobias
Cremer
Wir haben hier die Chance, zu zeigen, dass wir echte Friedenverhandlungen wollen – aber eben keine Kapitulation der Ukraine auf Kosten europäischer Sicherheit.
Andere befürchten, dass Russland das Antasten der Vermögen als einen Kriegseintritt werten und den Konflikt möglicherweise ausweiten könnte. Zu Unrecht?
Das gab es immer wieder, dass Russland gesagt hat, dies und jenes wäre ein Kriegseintritt. Schon bei den Debatten um Waffenlieferungen gab es diese Drohungen immer wieder. Dass Russland eine solche Eskalation auch immer wieder androht, ist also ein vollkommen zu erwartender strategischer Versuch, um uns einzuschüchtern, der in erster Linie zeigt: der Hebel wirkt.
Wir haben hier die Chance, zu zeigen, dass wir echte Friedenverhandlungen wollen – aber eben keine Kapitulation der Ukraine auf Kosten europäischer Sicherheit. Wir wissen, dass man mit Putin nur aus einer Position der Stärke zu echten Verhandlungen kommt.
Wie genau würde ein entsprechendes Darlehen an die Ukraine funktionieren?
Die Gelder, um die es geht, sind wegen der Sanktionen gegen Russland eingefroren und werden es dank dem Beschluss des Rates letzte Woche auch so lange bleiben, bis Putin Reparationen zahlt. Der Plan wäre, diese Gelder als Garantie zu verwenden, gegen die die EU ein Darlehen aufnimmt und an die Ukraine auszahlt. Es wäre also eine Art Reparationsdarlehen, das die Ukraine dann in dem Maße zurückzahlt, in dem Russland Reparationen an die Ukraine zahlen wird – wozu Russland rechtlich verpflichtet ist.
Der belgische Premierminister Bart De Wever hält das für Enteignung.
Das ist es aber nicht, da sind sich unsere Rechtsexperten ziemlich einig. Russland bleibt rechtlich im Besitz der eigenen Gelder, soweit es seiner Pflicht nachkommt und die Reparationen zahlt. Damit ist es keine Konfiszierung.
Tobias
Cremer
Die Vermögenswerte liegen überwiegend in Belgien, da ist es wichtig, die validen Sorgen der Belgier auch anzuhören.
Auch die Chefin von Euroclear, Valérie Urbain, steht dem Vorhaben skeptisch gegenüber – sie befürchtet, dass der europäische Finanzmarkt dadurch destabilisiert werden könnte.
Ich habe dazu in den letzten Wochen viel mit Finanzexperten und Geschäftsführern europäischer Banken gesprochen und die halten das allesamt für sehr unrealistisch. Im Gegenteil: Sie sagen uns, dass die Nutzung des Geldes ein Zeichen senden würde, dass Europa die eigene Sicherheit und Stabilität selbst in die Hand nehmen kann, was die Attraktivität des europäischen Finanzstandortes eher stärkt.
Im Rahmen des EU-Gipfels am 18. Dezember soll darüber entschieden werden, ob die russischen Vermögenswerte für die Ukrainehilfen verwendet werden sollen. Denken Sie, dass sich die Mitgliedstaaten in dieser Sache einig werden?
Ich glaube, wir müssen es. Das ist auch ein Lackmustest unserer Handlungsfähigkeit. Am Ende wird es auf Belgien ankommen. Die Vermögenswerte liegen überwiegend in Belgien, da ist es wichtig, die validen Sorgen der Belgier auch anzuhören. Wir müssen einerseits Vertrauen schaffen, dass das international rechtlich möglich ist. Andererseits muss auch klar sein, dass, wenn Belgien Konsequenzen drohen sollten, die anderen Mitgliedstaaten die Belgier dann nicht alleine lassen, sondern sie solidarisch unterstützen.
Im Vorschlag der Kommission ist das integriert – ich hoffe, dass man das in Belgien sieht. Es geht um viel. Europa muss mit an den Verhandlungstisch, es geht schließlich auch um unsere Sicherheit. In der internationalen Politik gibt es das Sprichwort: Wenn man nicht am Tisch sitzt, landet man schnell auf der Speisekarte. Wie schnell das bei Trump und Putin passieren kann, haben wir in den letzten Tagen gesehen. Das müssen wir verhindern, indem wir die Hebel, die wir haben, auch nutzen.
Was kommt auf die Ukraine und Europa zu, falls am 18. Dezember keine Einigung zustande kommen sollte?
Die Ukraine wird weiterkämpfen, aber der Krieg wird sich noch viel weiter unnötig in die Länge ziehen. Europa wird die Ukraine weiter unterstützen müssen, auch im eigenen Interesse. Denn seien wir nicht naiv: In diesem Krieg geht es nicht nur um die Ukraine. Putin möchte die NATO auseinandersprengen, die EU zerstören und unsere Gesellschaften spalten.
Europa ist dabei für ihn der Hauptgegner, weil Putin weiß, dass er gegen ein geeintes Europa kaum seine aggressiven Ziele durchsetzen könnte und auch weil die Art und Weise, wie wir in Europa leben, die Lügen seines eigenen Regimes infrage stellt. Der Erfolg von freiheitlichen Gesellschaften ist das, was Putin am allermeisten Angst macht. Deshalb versucht er ja jetzt schon, mit allen Mitteln einen Keil zwischen uns und die Amerikaner zu treiben, uns mit hybrider Kriegsführung und Desinformation einzuschüchtern, und unsere Gesellschaften durch die Unterstützung rechtspopulistischer Parteien zu spalten. Das dürfen und werden wir nicht zulassen.