Ukraine: Was die innenpolitische Krise für einen möglichen Frieden bedeutet
Die Ukraine ist nach dem Rücktritt von Selenskjys Stabschef innenpolitisch angeschlagen. Was das für die Lage im Land und die Erfolgschancen von Trumps Friedensplan bedeutet, erklärt Felix Hett, Leiter des FES-Büros in der Ukraine, im Interview.
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Selenskyi muss schwierige Entscheidungen abwägen. Doch wie viel Spielraum bleibt für Verhandlungen?
Wie würden Sie die aktuelle politische Stimmung in der Ukraine beschreiben, insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen über Friedensverhandlungen und der militärischen Lage an der Front?
Trumps „Friedensplan“ trifft die Ukraine am schwächsten Punkt seit Beginn der Invasion im Februar 2022. Vier Krisen überschneiden sich: Die Front wirkt angesichts der Mobilisierungskrise zunehmend instabil. Der massive russische Beschuss hat schon vor Beginn des Winters eine Energiekrise mit regelmäßigen Stromsperren ausgelöst.
Sollte der Europäische Rat am 18. und 19. Dezember keine Entscheidung zur Nutzung russischer Vermögen für die Ukraine treffen, droht eine Finanzkrise – die Deckung des Staatshaushaltes 2026 ist dann ungeklärt. Und diese drei Krisen werden verstärkt durch die Vertrauenskrise im In- und Ausland, die durch den aktuellen Korruptionsskandal im unmittelbaren Umfeld von Präsident Selenskyj ausgelöst wurde.
Wie wird der amerikanische 28-Punkte-Plan und die sich daran anschließenden Vorschläge in der Ukraine wahrgenommen?
In der Medienöffentlichkeit wurden die 28 Punkte vielfach negativ kommentiert. Das ist verständlich: Man hat nicht den Donbass seit 2014 verteidigt, um ihn nun kampflos zu räumen. Allerdings gibt es auch Kommentare, die zugestehen, dass der angebotene Deal unter allen gegenwärtig schlechten Optionen der Ukraine nicht der schlechteste sei. Immerhin enthält er US-Sicherheitsgarantien – wenn auch sehr vage formuliert. Und er will russische Gelder für den Wiederaufbau nutzen. Die EU-Perspektive bleibt gewahrt.
Die Frage ist: Hat die Ukraine Aussicht auf einen besseren Ausweg aus dem Krieg, wenn sie noch ein halbes oder ein ganzes Jahr weiterkämpft? Die Antwort fällt hier nicht eindeutig aus. Interessanterweise sind es gerade Stimmen aus dem Militär und aus nationalistischen Kreisen, die sich für ein Einfrieren des Krieges aussprechen. Klar ist allerdings auch: Die 28 Punkten waren der US-Einstieg in Verhandlungen, sie werden aktuell mit der Ukraine abgestimmt – und müssen dann noch mit Russland verhandelt werden.
Der Korruptionsskandal im Land zieht weiter seine Kreise, der Druck auf Wolodymyr Selenskyj nimmt zu. Am Freitag trat Selenskyjs Stabschef und rechte Hand Andrij Jermak infolge von Korruptionsermittlungen gegen ihn zurück. Wie angeschlagen ist der ukrainische Präsident?
Das Verhältnis von Jermak und Selenskyj galt als sehr eng: Selenskyj hat 2021 über ihn gesagt: „Er ist mit mir gekommen, und er wird mit mir gehen.“ Keiner von Jermaks Vorgängern seit 1991 hat so lange wie er – fast sechs Jahre – das Präsidialamt geleitet. Sein Abgang markiert damit vordergründig eine Zäsur. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er weiter beträchtlichen informellen Einfluss ausüben wird.
Die Korruptionsaffäre zeigt ja gerade an der Figur von Timur Minditsch erneut auf, dass man in der Ukraine kein formelles Amt braucht, um mächtig zu sein. Zugleich besteht für Selenskyj das Risiko, dass die nächste Enthüllung des Antikorruptionsbüros NABU ihn persönlich betreffen wird. Denn NABU hat bisher nach eigenen Angaben nur einen Bruchteil der abgehörten Gespräche veröffentlicht.
Im Zuge eines Friedenschlusses dürften bittere Zugeständnisse auf die Ukraine zukommen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Selenskyj einen schmerzhaften Kompromiss überhaupt durch das Parlament bekommt?
Es ist unklar, ob ein Friedensabkommen überhaupt durch das Parlament oder gar durch ein Referendum bestätigt werden müsste. Das hängt auch von der Art des Deals ab: Eine reine De-facto-Anerkennung der Gebietsverluste impliziert ja gerade keinen formellen Rechtsakt seitens der Ukraine. Es gibt Spekulationen darüber, dass Selenskyj die Entscheidung nicht alleine tragen, sondern auf mehrere Schultern verteilen möchte – das ist wahrscheinlich politisch klug.
Viele Experten – auch in Deutschland – stehen einem möglichen Friedensdeal mit Putin skeptisch gegenüber. Putin könne man nicht trauen, ein entsprechendes Abkommen würde die Grundlage für einen erneuten russischen Angriff in der Zukunft bieten. Wie sieht man dies in der Ukraine?
Ähnlich. Aber es wird einerseits zunehmend klar, dass es keine optimale Lösung, keine Garantien und keine hundertprozentige Sicherheit gibt, nur schmerzhafte Kompromisse. Und andererseits braucht die Ukraine eine Atempause: Selbst wenn der Krieg in ein oder zwei Jahren neu ausbrechen sollte, dann hätten wir jetzt wenigstens die Chance, uns auszuruhen – so würde ich die Stimmung bei einigen beschreiben. Letztlich gibt es keinerlei Vertrauen auf beiden Seiten, weder hat man in Kiew Vertrauen zu Moskau, noch will man sich im Kreml auf ukrainische Zusagen verlassen. Das ist allerdings der Normallfall in Kriegen. Und es macht deutlich, wie wichtig eine internationale Vermittlung ist.
Wie ist die Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft hinsichtlich eines möglichen ausgehandelten Friedens? Unter welchen Bedingungen – wenn überhaupt – wäre die Bevölkerung bereit, einen solchen Plan zu akzeptieren?
Nach Meinungsumfragen ist die Kompromissbereitschaft in den letzten Monaten stetig gestiegen. Weitreichende Zugeständnisse wie formale Gebietsverzichte werden in der Regel von einer Mehrheit abgelehnt. Aber schon im August waren über 80 Prozent der Befragten für eine Kompromisssuche im Rahmen von Verhandlungen – und nur elf Prozent sprachen sich dafür aus, bis zur Befreiung aller Territorien weiterzukämpfen. 2023, vor der dann gescheiterten Gegenoffensive der Ukraine, hatten für letzteres noch 60 Prozent votiert. Letztlich würde ich die Kompromissgesellschaft jeder Gesellschaft nicht unterschätzen. Die Frage ist, was die Ukraine im Austausch für Zugeständnisse bekommt. Sind es Frieden und wirtschaftliche Entwicklung, wird auch die Akzeptanz für diese steigen.
leitet die Redaktion des IPG-Journals. Zuvor war er Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Er hat in Mainz und Kalifornien Politikwissenschaft, Jura und Amerikanistik studiert.