Bedrohung durch Russland wächst: Wie Europa die Wehrpflicht reaktiviert
Wie groß ist die Gefahr, die von Russland für die Sicherheit und den Frieden in Europa ausgeht? Groß genug, um die Wehrpflicht wieder einzuführen – das zeigt ein Blick auf die Verteidigungspolitik in Skandinavien und im Baltikum.
IMAGO/TT
Gemeinsam abwehrbereit: Schwedens König Carl Gustav besucht ein Batalion der schwedischen Streitkräfte in der Nähe der lettischen Hauptstadt Riga während einer Militärübung im Mai 2025.
Noch vor wenigen Wochen, im August 2025, wies Russlands Präsident Wladimir Putin westliche Warnungen vor einem russischen Einmarsch im Baltikum oder in Polen als „absoluten Unsinn“ und „Hysterie“ zurück. „Russland hatte nie die Absicht – und wir haben niemals die Absicht – jemanden anzugreifen.“
Hysterie? Im Februar 2022 verspottete Russlands Außenminister Sergej Lawrow westliche Warnungen vor einem Einmarsch Moskaus in der Ukraine fast mit den gleichen Worten. Er verhöhnte sie als „hysterisch“ und „paranoid“. Nur wenige Tage später begann Putin den Angriffskrieg dann wirklich.
Donald
Tusk
Im Moment flehen 500 Millionen Europäer 300 Millionen Amerikaner um Schutz vor 140 Millionen Russen an, die seit drei Jahren nicht in der Lage sind, 50 Millionen Ukrainer zu besiegen.
Das sicherheitspolitische Dilemma Europas
Dass die Bedrohung immer größer wird, hat der jüngste russische Drohnenangriff auf Polen gezeigt. Auch die immer aggressiveren, fast täglichen Verletzungen des NATO-Luftraums durch Russland zur Spionage und Sabotage sprechen eine unmissverständliche Sprache. Zugleich wird immer deutlicher, wie wenig Europa in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen und wie abhängig es vom Schutz der USA unter Trump ist. Polens Ministerpräsident Donald Tusk hat dieses Dilemma vor kurzem so formuliert: „Im Moment flehen 500 Millionen Europäer 300 Millionen Amerikaner um Schutz vor 140 Millionen Russen an, die seit drei Jahren nicht in der Lage sind, 50 Millionen Ukrainer zu besiegen.“
Ist die Einführung der Wehrpflicht eine Antwort auf dieses Dilemma? Ein Weg zu mehr Sicherheit in Europa vor Russland? Vielleicht auch ein Weg aus der amerikanischen Abhängigkeit? Eine Reihe europäischer Staaten beantworten diese Fragen mit Ja. Sie haben nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine 2022 die Wehrpflicht wiedereingeführt.
Schweden – Vorbild für Deutschland
Auffällig dabei: Es sind vor allem Länder in Nord- und Osteuropa, die der russischen Bedrohung mit der Wehrpflicht etwas entgegensetzen wollen. Da ist zuerst Schweden, das einwohnerstärkste Land Skandinaviens, an dem sich Verteidigungsminister Boris Pistorius und die Bundesregierung beim Thema Wehrdienst-Modell ein Vorbild nehmen. Im Jahr 2010 – ein Jahr vor Deutschland – beendete Stockholm die Wehrpflicht. Um sie nur wenige Jahre später, nämlich 2017, wieder einzuführen, mit einer Mischung aus Freiwilligkeit und Pflicht. Der Anlass: die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im Jahr 2014.
Schweden führte ein Wehrpflichtmodell für Männer und für Frauen ein. Diesem Beispiel folgt seit Juli 2025 auch Dänemark, wo beide Geschlechter über eine Lotterie zum Wehrdienst herangezogen werden.
Die russischen Angriffe auf die Ukraine zeigten auch im Baltikum Wirkung: Litauen führte die allgemeine Wehrpflicht schon 2015 wieder ein, nur ein Jahr nach der Krim-Annexion durch Moskau. Lettland reaktivierte sie im Jahr 2023 zunächst auf freiwilliger Basis, im Jahr 2024 wurde sie verpflichtend.
Norwegen und Finnland blieben bei der Wehrpflicht
Damit zeigt sich: Besonders die Ostsee-Anrainer in Skandinavien und im Baltikum fühlen sich vom expansionistischen Nachbarn Russland bedroht und antworten mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Norwegen, Finnland und Estland mussten das nicht, weil sie die allgemeine Wehrpflicht nie abgeschafft haben.
Eine weitere Folge der russischen Aggression gegen die Ukraine war der NATO-Beitritt Finnlands in 2023 und der Schwedens in 2024. Erstmals seit über 200 Jahren gab Stockholm damit seine militärische Neutralität auf – eine Entscheidung von wahrhaft historischer Dimension.
Europas besorgter Blick auf Russland
All diese Schritte wären nicht erfolgt ohne den besorgten Blick auf Russland, das die Grundlagen der europäischen Friedensordnung nicht mehr akzeptiert. Die Prinzipien der KSZE-Schlussakte von Helsinki – der Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt und die Anerkennung der bestehenden Grenzen in Europa – werden von Moskau seit Jahren und jeden Tag aufs Neue mit Füßen getreten.
Deshalb ist für den Westen der Blick auf Russlands Militär von enormer Bedeutung. Es geht darum, abzuschätzen, wie groß die konkrete Gefahr einer neuen russischen Invasion in seine Nachbarländer ist. Der Ukraine-Krieg 2022 hat den Europäer*innen gezeigt, wie schnell aus einem angeblich friedlichen Manöver, das ausschließlich der Verteidigung dienen sollte, ein brutaler Angriffs- und Eroberungskrieg werden kann.
Boris
Pistorius
Eine starke Armee, personell und materiell, ist das effektivste Mittel, um Kriege zu verhindern.
Deutlich mehr russische Soldaten und Reservisten
Da ist es von Belang, dass Russland die Wehrpflicht aus Sowjetzeiten nahtlos beibehalten hat. Aber auch hier hat der Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einer substanziellen Veränderung geführt: Mit dem Einmarsch in das Nachbarland trat nämlich 2022 in Russland eine Teilmobilmachung in Kraft. Nun können Reservisten in jedem Alter eingezogen werden. Ab 2023 wurde dann das Alter für Wehrpflichtige angehoben von 27 auf 30 Jahren.
Das alles hat Auswirkungen auf die Stärke der russischen Streitkräfte: Die Zahl der aktiven Soldaten stieg von rund einer Million auf 1,5 Millionen, die der Reservisten von 1,5 auf rund zwei Millionen.
Pistorius: Neues Wehrdienstmodell ist „Riesenschritt nach vorne“
Skandinavien und das Baltikum haben auf die gestiegene Bedrohung durch Russland reagiert. Deutschland ist dabei, indem es mit dem neuen Wehrdienstmodell nach schwedischem Vorbild einen „Riesenschritt nach vorne“ gehen will, wie es Verteidigungsminister Boris Pistorius ausdrückte. Angesichts des immer aggressiveren Auftreten Russlands lässt Pistorius keinen Zweifel: „Eine starke Armee, personell und materiell, ist das effektivste Mittel, um Kriege zu verhindern.“
Wieder ein bemerkenswerter Text von Lars Haferkamp.
Am 26.2.2024 räumte er (unfreiwillig) mit unserem Narrativ „imperiale Besessenheit“ seitens Putin als Grund für den Ukraine-Krieg auf, verwies stattdessen auf das „geopolitische Desaster von wahrhaft historischer Dimension“, das Russland durch die Nato-Osterweiterung zugefügt worden ist. Welche (atomare) Weltmacht – diese Frage stellte Haferkamp aber nicht - nimmt das schon (und noch anstehende weitere Sicherheitseinbußen) einfach hin - vergeblich protestierend?
Am 21.8.2024 klärte er über den „hybriden Krieg“ auf , mit dem „Russlands Geheimdienste heimtückisch Europa attackieren“. So „versucht Russland systematisch, unsere Demokratie zu destabilisieren (Dirk Wiese), „bekämpft Russland den Westen im Westen“ (Jens Stoltenberg), führt Russland einen „Schattenkrieg gegen den Westen“ (Kaja Kallas). Und dann sind da noch die „Sicherheitsexpert*innen, die das Urteil der Politiker*innen stützen.
Auf Haferkamp bezieht sich Gewährsmann Jonas Jordan (17.7.25) und behauptet: „Russland bedroht den Frieden und die Freiheit zahlreicher EU-Staaten beinahe täglich mit Mitteln der hybriden Kriegsführung“. Eine lückenlose Beweiskette.
Die Beispiele, die Haferkamp für seinen „hybriden Krieg“ nennt, geben seiner Analyse kein Gewicht. Sie zeigen vielmehr, dass Interessen seine Erkenntnisse leiten. (Überzeugen Sie sich: Vorwärts, International, Hybrider Krieg …, Lars Haferkamp 21. August 2024 - und Kommentare). (So ganz traut Haferkamp seiner Analyse selbst nicht, wenn er feststellt/ zitiert, dass „`das Erschreckende` an der hybriden Kriegsführung Moskaus oft `weniger die Virtuosität des Angreifers als die Leichtfertigkeit des Angegriffenen` sei.“)
Sein aktueller Text schließt an den früheren an, wenn er feststellt: „Dass die Bedrohung immer größer wird, hat der jüngste russische Drohnenangriff auf Polen gezeigt. Auch die immer aggressiveren, fast täglichen Verletzungen des NATO-Luftraums
durch Russland zur Spionage und Sabotage sprechen eine unmissverständliche Sprache“. Es ist nicht sicher, dass die jüngst in Polen niedergegangenen 20 Drohnen, größtenteils unbewaffnet und für Spionage ungeeignet, von Russland auf Polen ausgerichtet oder durch jamming fehlgeleitet wurden. Dass es eine andere als die von Haferkamp angebotene Erklärung geben könnte, könnte die erfolgte Warnung von Belarus auf den Drohnenschwarm an polnische Stellen nahelegen. Und dass auch andere Staaten wahre Wunder mit Drohnen anrichten können, erlebte Russland erst kürzlich, als die Ukraine tief auf russischem Gebiet „offenbar Dutzende russische Flugzeuge“ (Tagesschau vom01.06.2025) vernichtete. Das durch eine Rakete (nur leicht) zerstörte Haus in Polen ist auch nicht von Russland, sondern von eine Nato-Rakete, die zum Glück nicht explodiert ist, beschädigt worden. Sollten die äußerst vagen „täglichen Verletzungen des NATO-Luftraums durch Russland zur Spionage und Sabotage“
(auch) die behauptete Beinahe-Sabotage (GPS) des Fluges der EU-Präsidentin nach Bulgarien meinen, so ist wohl davon auszugehen, dass das eine Fehlannahme war. Und ob die drei russischen Kampfjets letztens tatsächlich estnischen Luftraum verletzt haben, ist bisher nicht sicher.
Aber es geht ja gar nicht um eine reale Bedrohung. Entscheidend ist, dass unsere Kriegstüchtigen halbwegs plausibel behaupten können, dass die „Bedrohung durch Russland wächst“, dass der Experte Masala sagen kann, am „27. März 2028 besetzen russische Truppen die estnische Grenzstadt Narwa“, der Generalinspekteur der Bundeswehr orakeln, 2029 könnte Russland zu einem "großmaßstäblichen Krieg" in der Lage sein. Dass das ganze Gerede vom hybriden Krieg, der bald in einen richtigen Krieg ausarten könnte, nur (gefährliches) Gerede ist, legt Haferkamp - und hier ist er zu loben – nahe, wenn er genüsslich anmerkt, dass sich Tusk über „500 Millionen Europäer“ lustig macht, die vor „140 Millionen Russen (Angst haben),
die seit drei Jahren nicht in der Lage sind, 50 Millionen Ukrainer zu besiegen“. Und aus der Sicht der Russen: Kann jemand ernsthaft annehmen, dass „140 Millionen Russen, die seit drei Jahren nicht in der Lage sind, 50 Millionen Ukrainer zu besiegen“, sich mit „500 Millionen Europäer“ anlegen oder auch nur auf Krieg oder einen kriegsähnlichen Zustand testen zu wollen?
Bei Illner gab es letzten Donnerstag (18.9.) wieder einen Talk zum hier behandelten Thema Bedrohung, bei dem die Kriegstüchtigen unter sich waren. Stegner wurde von Illner nicht einmal als Alibi für Meinungsvielfalt, sondern sofort aus dem Spiel genommen, indem sie ihn mit seinen fast schon vaterlandsverräterischen Gesprächen mit Russen konfrontierte und damit als Diskussionsteilnehmer disqualifizierte.
Das Gespräch verlief so bizarr, dass selbst Röttgen, der sich in Kriegstüchtigkeit sonst von niemand überbieten lässt, am Ende zu Besonnenheit aufforderte und darauf bestand, die Schwelle zur direkten Beteiligung am Krieg nicht zu überschreiten. Diese Hemmschwelle aber wird, und das ist das gefährliche am Text von Haferkamp, immer niedriger gesetzt.
PS. Neueste Desinformationskampagne: Trump belegt den Importe von medizinischen Produkten mit 100% Zöllen.