Meinung

SPD-Abgeordnete Rasha Nasr: „Wir sind das Stadtbild“

Wer Menschen zu Problemen erklärt, wird irgendwann selbst Teil des Problems, meint die SPD-Abgeordnete Rasha Nasr zu den jüngsten Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz. Stattdessen brauche es Debatten über die wahren Ursachen sozialer Probleme.

von Rasha Nasr · 24. Oktober 2025
Rasha Nasr ist Bundestagsabgeordnete und migrationspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion.

Rasha Nasr ist Bundestagsabgeordnete und migrationspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion.

Als der Bundeskanzler jüngst sagte, es gebe ein „Problem im Stadtbild“ – und diesen Satz auf Nachfrage nicht nur verteidigte, sondern bekräftigte –, hat er eine Grenze verschoben. Nicht die zwischen politischen Lagern, sondern eine, die mitten durch unsere Gesellschaft verläuft.

Denn Sprache ist nie neutral. Und wenn ein Bundeskanzler Migration, Rückführungen und „das Stadtbild“ in einem Atemzug nennt, dann ist das kein unglücklicher Versprecher, sondern ein Signal. Ein Signal, das Ressentiments nicht abbaut, sondern befeuert. Das keine Probleme löst, sondern neue Gräben zieht.

Worte haben immer eine Bedeutung

Wenn jemand sagt, es gebe ein „Problem im Stadtbild“, dann meint er damit etwas. Ich hoffe sehr, dass es keine rassistische Äußerung war, sondern dass er auf echte Herausforderungen hinweisen wollte. Auch wenn wir das wohl nie erfahren werden. 

Denn es gibt Orte, an denen Verwahrlosung spürbar ist: Bahnhofsvorplätze, auf denen Drogenkriminalität grassiert, Innenstädte, in denen Armut sichtbar wird, Menschen ohne Wohnung, die keine Perspektive mehr haben. Das sind reale Probleme, die man klar benennen und angehen muss.

Aber wer all das unter dem Schlagwort „Problem im Stadtbild“ zusammenfegt, greift viel zu kurz. Diese Formulierung verschiebt die Debatte: Weg von sozialer Realität hin zu einem Bild, das Migration ins Zentrum rückt. Das ist nicht nur unpräzise - das ist politisch gefährlich.

Wir brauchen echte Antworten auf die Probleme in den Innenstädten

Obdachlosigkeit entsteht aus Armut. Wer wirklich etwas gegen die Verwahrlosung in Innenstädten tun will, muss armutsfeste Löhne schaffen, armutsfeste Renten sichern und für eine gerechte Mietenpolitik sorgen, die bezahlbaren Wohnraum ermöglicht. Wir brauchen mehr sozialen Wohnungsbau, Housing-First-Konzepte, aufsuchende Sozialarbeit und eine starke psychosoziale Infrastruktur.

Das wären echte Antworten auf Probleme in unseren Innenstädten. Nicht Schlagworte. Nicht populistische Vereinfachungen. Und schon gar nicht das pauschale Stigmatisieren von Menschen, die nicht dem klassischen Bild des „typisch Deutschen“ entsprechen.

Rasha
Nasr

Ich habe eine Tochter. Und nach der Logik des Kanzlers passt auch sie nicht ins „richtige“ Stadtbild.

Besonders irritierend war der Moment, als der Kanzler einen Journalisten fragte, ob er Töchter habe – und damit suggerierte, dass „Töchter“ automatisch wissen, was er meint. Ich habe auch eine Tochter. Und nach der Logik des Kanzlers passt auch sie nicht ins „richtige“ Stadtbild.

Feminismus als Feigenblatt

Und das, Herr Merz, ist eine Grenzüberschreitung. Nicht nur, weil damit unterschwellig festgelegt wird, wer dazugehört und wer nicht. Sondern auch, weil wir als Frauen instrumentalisiert werden, um ein Narrativ zu stützen, das pauschalisiert.

Und das ausgerechnet von einem Politiker, der sich bei zentralen frauenpolitischen Fragen in der Vergangenheit nicht gerade als Vorkämpfer hervorgetan hat: gegen die Abschaffung des Paragrafen 218, gegen die Ehe für alle, gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. Wer sich in solchen Fragen konsequent gegen Fortschritt gestellt hat, sollte sehr vorsichtig sein, wenn er sich plötzlich als oberster Feminist des Landes inszeniert.

Führung bedeutet Verantwortung

Politische Sprache ist kein rhetorisches Beiwerk. Sie prägt Debatten, sie formt Stimmungen. Und sie kann Spaltung vertiefen oder Brücken bauen. Wer an der Spitze eines Landes steht, weiß das – oder sollte es wissen.

Deshalb ist es so gefährlich, wenn ein Bundeskanzler mit Begriffen arbeitet, die sich nahtlos in rechtspopulistische Deutungsmuster einfügen lassen. Diese Worte sind kein Ausrutscher. Sie sind Zunder.

Als migrationspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, als Sozialdemokratin und als Frau mit Migrationsgeschichte erwarte ich, dass die Bundesregierung diese Debatte sachlich und differenziert führt, und keine Räume für Interpretationen schafft, die Ressentiments verstärken.

Rasha
Nasr

Ich erwarte, dass der Kanzler versteht, was Worte auslösen. Und dass er Verantwortung dafür übernimmt, wenn sie Schaden anrichten.

Ich erwarte, dass der Kanzler versteht, was Worte auslösen. Und dass er Verantwortung dafür übernimmt, wenn sie Schaden anrichten. Denn die Bundesregierung kann es sich nicht leisten, Nebenschauplätze zu eröffnen, wenn die echten Probleme längst auf dem Tisch liegen.

Wir brauchen die richtigen Debatten

Wir müssen über Armut reden. Über bezahlbares Wohnen, Bildungsgerechtigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Sicherheit. Über Integration als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Nicht über ein nebulöses „Stadtbild“, das vor allem eines tut: Ressentiments schüren.

Wer Menschen zu Problemen erklärt, wird irgendwann selbst Teil des Problems.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.