Meinung

Sauerland als Maßstab: Was hinter Friedrich Merz' „Stadtbild“-Debatte steckt

Mit seiner Äußerung über das Stadtbild im Zusammenhang mit Migration stößt Bundeskanzler Friedrich Merz weiterhin auf Unverständnis. Der Kolumnist Martin Kaysh geht dem ganzen auf den Grund. Er landet – in der Vergangenheit und im Sauerland.

von Martin Kaysh · 21. Oktober 2025
Bierdeckel mit Aufschrift: Mehr Sauerland für Deutschland

Beliebtes Wahlkampfmotto der CDU im Bundestagswahlkampf 2025: „Mehr Sauerland für Deutschland“ 

Früher hieß der Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“. Für die Jury wurde der Dorfbrunnen mit Ata geschrubbt, das Gefieder des Gemeindegockels mit Schuhwichse auf Hochglanz poliert und der Kirchenchor sang irgendwas von der letzten Heino-LP. Man kann vermuten, dass hier im Sauerland ästhetische Grundlagen gelegt wurden für ein christdemokratisches Urbi et Orbi, ein Stadt- und Weltbild, an das man sich in diesem Babylon Berlin klammern kann.

Diese frühkindliche Prägung wirkt bis heute nach, wo du in einer Panzerglaslimousine durch deutsche Metropolen kutschiert wirst, wenn du dort mal Kontakt zu handverlesenen und frischgeduschten Menschen von der Straße im Kalender stehen hast.

„Mehr Sauerland für Deutschland“

Den gibt es für Instagram, für schöne Bilder, für nice Pics. Dein Stylist hat dir gerade für 1.700 Euro plus Mehrwertsteuer Bürgernähe ins Gesicht geschminkt. Da kannst du auch vom menschlichen Stadtbild gewisse Standards erwarten, nicht so olle KiK-Fleecejacken, kein Elend halt, aber vor allem nichts, wie soll man sagen: also jetzt in Gütersloh kann man schon einen Gütersloher Stammbaum erwarten, der mindestens zurückreicht bis zur ersten Miele-Waschmaschine von 1901. 

Dieses „Mehr Sauerland für Deutschland“ war ein schönes Wahlkampfmotto, plakatiert in und um Niedereimer. Diese Großstadtschnösel hatten das für einen Gag gehalten. Ihr Problem. Sie kennen halt nicht die Meisterwerke deutscher Popkultur, wie den Song „Sauerland“ von Zoff. „In Hundesachsen wird auf Touristen geschossen und trotzdem kommen jedes Jahr mehr“, heißt es da 1983 düster vorausschauend. Das war Satire, aber das hatte dir keiner gesagt, damals beim Mitgrölen auf dem Kaiserball der Schützenbruderschaft Altastenberg, Vereinsmotto „für Glaube, Sitte und Heimat.“ 

Mehrfamilienhaus als sozialer Brennpunkt 

Solche Bruderschaften sind im Sauerland weitverbreitet und manchmal noch heute Clubs, deren Satzung weibliche Mitglieder nicht vorsieht. Neulich gab es so einen Fall, da hat man nach Jahrzehnten eine Frau aus dem Verein geschmissen. Außersauerländer fragen sich: Haben die plötzlich lesen gelernt und deshalb ihre Satzung verstanden? Oder sind zeitverzögert die Oswald-Kolle-Filme im Dorfkino angelaufen, durch die man, ganz ohne Simone de Beauvoir erfuhr, dass es da so etwas wie „das andere Geschlecht“ gibt?

Man muss so einen verstehen, er kennt sich aus, auch in Sachen Emanzipation. Die Frauen zuhause erzählen doch schließlich, ungefragt neuerdings, etwa vom Herbstbasar der Landfrauen, auf dem selbstgebatikte Kopftücher für Kinder in Afrika verkauft werden. Man ist hier nicht so pauschal gegen Fremde.

Natürlich kennst du die brutale Wirklichkeit der Metropolen, aus der Kreisstadt. Dort gilt dieses verdächtige Mehrfamilienhaus am Busbahnhof ja als der soziale Brennpunkt der Gemeinde. Natürlich hast du Überblick über die Lage in Deutschland, von den Trips im kleinen Privatflieger. Da unten liegen die deutschen Städte, die von oben herab so aussehen wie die Modelleisenbahn-Dörfer von Wolfgang Schäuble oder Karl-Theodor zu Guttenberg. 

Gegen Punks, Obdachlose und Migranten

In diesen Modellstädten hocken keine Väter von Paschas in Zahnarztpraxen oder lungern auf Straßen herum. In solchen Straßenidyllen tanzt man jauchzend um den Maibaum herum, auch noch im November. 

Natürlich ist verdächtig, wer nicht wie dein gutdeutscher Durchschnittswähler nach Feierabend zuhause über Netflix hockt und die Tür nur noch dem Essenskurier von Lieferando öffnet.

Das Leiden am Leben und der Lebendigkeit in den Städten ist so alt wie die Stadt. Hier im Niedersauerland, dem Ruhrgebiet, gab es allein in den letzten Jahrzehnten drei große Zielgruppen der Abneigung und Wut. Mal waren es die Punks, mal die Skateboardfahrer, und immer waren es die Obdachlosen. Jetzt, im Spätmerz, sind es halt die so genannten Ausländer, Migranten, Zugewanderten, Fremden. Die Logik scheint simpel: Zu viele Fremde in der Öffentlichkeit bedeuten mehr Fremdenfeindlichkeit. Und immer mehr Frauen im öffentlichen Leben bedeuten demnach wohl immer mehr Frauenfeindlichkeit, nicht nur bei Richterwahlen.

Autor*in
vorwärts-Kolumnist: Kabarettist und Alternativkarnevalist Martin Kays
Martin Kaysh

ist Kabarettist, Alternativ-Karnevalist („Geierabend“) und Blogger. Er lebt im Ruhrgebiet, freiwillig.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.