„Lolita lesen in Teheran“: Wie sich Frauen im Iran etwas Freiheit erkämpfen
Bei heimlichen Treffen diskutiert eine Professorin mit Studentinnen über verbotene Bücher und viel mehr. Das Kinodrama „Lolita lesen in Teheran“ erzählt vom Mut regimekritischer Frauen im Iran. Der berührende Film beruht auf einer wahren Geschichte.
Marie Gioanni
Zeit des Umbruchs in Teheran: Literatur-Professorin Azar Nafisi (Golshifteh Farahani) verfolgt einen Disput über den Roman „Der große Gatsby“.
Am Teheraner Flughafen wartet eine junge Frau im modischen Kostüm am Schalter der Passkontrolle. Schon der skeptische bis feindselige Blick des Sicherheitsbeamten zeigt ihr, dass sich die Zeiten geändert haben. Dennoch ist die Hoffnung auf den neuen Iran zu groß, um gleich wieder kehrt Richtung USA zu machen. Schließlich ist die Islamische Revolution des Jahres 1979 noch ganz frisch. Was das klerikale Regime nicht nur, aber gerade für Frauen bedeutet, ahnen ihn diesem Moment wohl nur wenige. Schon bald verschwinden Kostüme wie dieses aus der Öffentlichkeit.
Die heimkehrende Professorin hofft auf einen besseren Iran
Die Frau, die dem bärtigen Uniformierten während der Anfangssequenz des Films „Lolita lesen in Teheran“ selbstbewusst in die Augen schaut, heißt Azar Nafisi. Mit ihrem Mann ist sie in beider Geburtsland gereist, um nach dem Sturz des Schahs einen neuen und besseren Iran mit aufzubauen, wie sie glaubt. Und zwar, indem sie wie bisher englische Literatur unterrichtet und dadurch Weltoffenheit sowie Kunstsinn in die Köpfe junger Menschen pflanzt.
Voller Begeisterung stürzt sich die Hochschullehrerin in die neue Aufgabe. Doch schon bald wird es immer schwieriger, frei über Romane wie „Der große Gatsby“ zu diskutieren. Immer lauter werden die regimetreuen Stimmen im Seminar. Nafisi reagiert, indem sie das Buch von F. Scott Fitzgerald buchstäblich vor Gericht stellt und Kritiker*innen wie Befürworter*innen zu Wort kommen lässt. Die zunehmende geistige Enge an der Hochschule lässt sich mit dieser Inszenierung allerdings nicht aufhalten. Bald eskaliert auch dort die Gewalt seitens der „Sittenpolizei“.
Der Film des israelischen Regisseurs Eran Riklis („Mein Herz tanzt“) folgt einer wahren Lebensgeschichte. 2003 veröffentlichte die iranisch-amerikanische Hochschulprofessorin Azar Nafisi ein international äußerst erfolgreiches Buch des gleichen Titels. Darin blickt sie auf ihr Leben im Iran zurück. Anfang der 80er-Jahre verlor sie ihren Uni-Job und blieb unfreiwillig zu Hause.
Ab dem Ende des Jahrzehnts konnte sie wieder lehren. Mitte der 90er-Jahre begann Nafisi, ausgewählte Studentinnen für private Workshops zu sich nach Hause einzuladen. Dort diskutierten sie nicht nur über verbotene Bücher wie Vladimir Nabokovs „Lolita“, sondern auch über grundsätzliche kulturelle und Menschenrechtsfragen. Ende der 1990er-Jahre ging Nafisi mit ihrer Familie wieder in die USA.
Jeder der Frauen weiß, was Unterdrückung bedeutet
Jene Literatur-Nachmittage bei Tee und Gebäck stehen im Mittelpunkt des Films. „Sind wir nicht alle ein bisschen wie Lolita?“, fragt eine Studentin in die Runde. Es ist eine Anspielung auf den sexuellen und moralischen Missbrauch durch einen Mann, den die Romanfigur erfährt. Jede dieser Frauen weiß, was es bedeutet, geringgeschätzt und unterdrückt zu werden. Am drastischsten zeigt sich dies am Beispiel von Sanaz, die im berüchtigten Evin-Gefängnis gedemütigt wurde. So wie Nafisis Wohnzimmer zu einem Ort der Freiheit, für heilenden Austausch und Empowerment unter unangepassten Frauen wird, dient es in der filmischen Erzählung als Zentrum zwischen verschiedenen Zeitebenen und verstörenden Szenen aus dem iranischen Alltag.
Der Film gibt tiefe Einblicke in das Seelenleben der Literatur-Liebhaberinnen, die ständig fürchten müssen, in die Fänge des Sicherheitsapparates zu geraten. Das gilt besonders für Nafisi: Hauptdarstellerin Golshifteh Farahani („Huhn mit Pflaumen“) findet subtile emotionale Nuancen, um eine von vielerlei Sehnsüchten und Widersprüchen gezeichnete Frau zum Leben zu erwecken. Und auch für Sanaz: Mit dem ihr eigenen zurückgenommenen Spiel gelingt es Zar Amir Ebrahimi („Holy Spider“) innerhalb weniger Augenblicke, ein menschliches Drama abzubilden. Was sie erlebt, ist wie ein Spiegelbild aller Frauen im „Gottesstaat“.
Iran: Land der enttäuschten Hoffnungen
„Lolita lesen in Teheran“ konnte naheliegenderweise nicht ebendort gedreht werden. In Rom wurde die Metropole stimmig nachempfunden, auch dank digitaler Effekte. Man erkennt die Liebe zum Detail, wenngleich die organische Bildsprache etwas zu sehr auf Hochglanz poliert ist. Dass Nafisi während einer gut 20 Jahre umfassenden Zeitspanne kein bisschen altert, passt zum Gesamteindruck.
An einigen Stellen wären etwas mehr Ecken und Kanten, mehr Dynamik und anderweitige unkonventionelle Elemente wünschenswert gewesen. Trotzdem vermittelt der für ein breites Publikum geeignete Film einen intensiven Eindruck davon, was es bedeutet, in einem Land zu leben, wo die Hoffnungen nicht nur der Frauen immer wieder enttäuscht werden.
„Lolita lesen in Teheran“ (Italien/Israel 2024), nach den Memoiren von Azar Nafisi, Regie: Eran Riklis, Drehbuch: Marjorie David, mit Golshifteh Farahani, Zar Amir Ebrahimi, Mina Kavani, Sina Parvaneh u.a., 108 Minuten, FSK ab zwölf Jahre
Im Kino
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