Film „A Letter To David“: Das Porträt einer israelischen Geisel in Gaza
Am 7. Oktober jährt sich der brutale Überfall der Hamas auf Israel zum zweiten Mal. Der Film „A Letter To David“ erzählt die Geschichte von einer der rund 250 Geiseln, die die Terrororganisation Hamas damals in den Gazastreifen verschleppt hat.
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Rückblende: Im Jahr 2013 spielten die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio in dem Film „Youth“ mit.
Es braucht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass an diesem apokalyptischen Ort mal Familien gelebt haben. Die Kamera folgt Eitan Cunio bei seinem Streifzug durch die verkohlten Reste von Einfamilienhäusern. Sie liegen im einstigen Kibbuz Nir Oz. Die im Süden Israels und in Sichtweite des Gazastreifens gelegene Kollektivsiedlung wurde bei dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 besonders schwer getroffen. Allein hier töteten Terrorkommandos 47 Menschen und verschleppten 76 weitere. Landesweit wurden 1.182 Todesopfer gezählt. Es war der größte Massenmord an Menschen jüdischen Glaubens seit der Shoa.
Das Schicksal von David Cunio ist ungewiss
Wie durch ein Wunder überlebten Eitan Cunio, seine Frau und die beiden Töchter das Grauen. Das Schicksal seines Zwillingsbruders ist bis heute ungewiss: David Cunio ist eine der 48 verbliebenen Geiseln in den Händen der Hamas in Gaza. Und niemand weiß, ob er noch lebt.
Was macht es mit jemandem, der einen traumatischen Gewaltexzess hinter sich hat? Und wie lebt es sich mit dem Wissen, dass ein geliebter und sehr innig verbundener Mensch noch immer der Willkür einer skrupellosen Terrororganisation ausgesetzt ist? Und mit der Ungewissheit darüber, ob dieser Mensch überhaupt noch am Leben ist?
Davon erzählt der Film „A Letter To David“, der kurz vor dem zweiten Jahrestag jener Anschlagswelle in die Kinos kommt und auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere gefeiert hat. Der israelische Regisseur und Drehbuchautor Tom Shoval legt keinen Dokumentarfilm im klassischen Sinne vor, eher handelt es sich um eine essayistische Form einer Annäherung an die besagten Fragen, aber auch an den Protagonisten David, der den Umständen entsprechend nur in Szenen aus der Zeit vor seiner Entführung in Erscheinung treten kann.
Die Entführung wurde zur Realität
Die besagte Form ist indes eine besondere. Shoval und die beiden Cunio-Brüder sind alte Weggefährten. David und Eitan wirkten in Shovals antimilitaristischem Spielfilmdebüt „Youth“ mit, das im Jahr 2013 auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Die Laienschauspieler verkörperten zwei Brüder, die eine Entführung durchziehen, um ihre Familie aus der Schuldenfalle zu befreien.
Zehn Jahre später wurde die Entführung bittere Realität. Shoval macht das immer wieder bewusst, wenn er Szenen aus „Youth“ mit Erinnerungen an David verknüpft. Seien es seine eigenen oder die von anderen Menschen, die David sehr nahestehen. Im Zuge der Erzählung tritt uns David immer konkreter gegenüber: als Freund und Schauspieler, aber auch als Vater, Sohn und Partner.
Hinzu kommen Casting- und Making-of-Sequenzen von „Youth“, aber auch Alltagssituationen, die die beiden filmverrückten Brüder über Jahre in ihrem Kibbuz mit der Kamera dokumentiert haben. Dieser wechselhafte und spielerische Zugang ist im ersten Moment irritierend, im weiteren Verlauf entwickelt die Vielzahl an Perspektiven aber eine prägnante ästhetische und emotionale Kraft.
Überdies bildet sie einen Gegenpol zum blanken Horror, der einem immer wieder ungefiltert begegnet. Etwa, wenn Eitan berichtet, was ihm widerfuhr, als er mit seiner Familie im Schutzraum seines Hauses eingeschlossen war und draußen die Hamas wütete. Oder wenn Davids Frau, die ebenfalls, wie auch ihre beiden kleinen Töchter, nach Gaza entführt wurde und nach 52 Tagen freikam, ihre Erlebnisse vom 7. Oktober und das Leben danach schildert. Oder wenn das Schicksal von weiteren, zum Teil aus Medienberichten bekannten Menschen aus Nir Oz in kurzen Schlaglichtern betrachtet wird.
Ein Film gegen das Vergessen
„A Letter To David” versteht sich als Appell gegen das Vergessen und will für das Leid der Menschen sensibilisieren: nicht nur in Israel, sondern auch im von der israelischen Armee weitgehend zerstörten Gazastreifen. Mit dem begrenzten Blick auf eine Familie und ihr näheres soziales Umfeld ist dies auf sehr eindringliche Weise gelungen.
„A Letter To David“ (Israel/USA 2025), ein Film von Tom Shoval, 74 Minuten, FSK ab 12.
Im Kino
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