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Neuer Präsident in Bolivien: Kann Rodrigo Paz die Hoffnungen erfüllen?

Nach 20 Jahren sozialistischer Herrschaft gewinnt in Bolivien ein Außenseiter die Präsidentschaftswahl. Der Mitte-Politiker Rodrigo Paz übernimmt ein Land in der Krise.

von Christine-Felice Röhrs · 21. Oktober 2025
Rodrigo Paz Pereira, neuer Präsident Boliviens an der Wahlurne

Ging mit Parolen wie „Kapitalismus für alle“ und Wahlversprechen an die Ärmsten in den Wahlkampf und siegte: Rodrigo Paz ist neuer Präsident Boliviens

Der Mann, der am Sonntag in Bolivien Präsident wurde, ist ein Überraschungssieger. Vor drei Monaten hatte Rodrigo Paz, 58 Jahre alt und Politiker der Mitte, noch weniger als fünf Prozent Zustimmung. Erst in den letzten Tagen vor der ersten Runde der Wahlen am 17. August schoss er aus dem Nichts an die Spitze. Allerdings gewann er damals nicht die notwendige Mehrheit und musste deshalb am Sonntag in einer historischen Stichwahl gegen den Zweitplatzierten, den rechtskonservativen Jorge „Tuto“ Quiroga, antreten. 

Diese Stichwahl hat Paz nun mit rund 54 Prozent der Stimmen gewonnen. Es ist eine knappe Mehrheit angesichts der Herausforderungen, die er zu bewältigen hat: Die Quasi-Pleite des Staates plus eine politisch-institutionelle, eine soziale und eine Umwelt-Krise. Und das mit einer Minderheitsregierung.

Paz war zuletzt Senator einer Parteienkoalition der politischen Mitte. Er ist Sohn eines Ex-Präsidenten aus sozialdemokratischer Tradition, der bis heute ein zentraler Berater bleibt. Ideologisch aber ist Paz’ Programm schwer festzulegen und lässt sich am besten als zentristisch beschreiben.

Rodrigo Paz: weniger Staat und mehr Markt

Sein Ton wabert einerseits ab und zu ins Religiös-Nationalistische, andererseits ist er versöhnlich, mit einer Botschaft von Einheit und Erneuerung – eine Rhetorik, die nach Jahren toxischer Polarisierung und politischer Paralyse besonders gut ankommt. Mit seinem Plan, den „blockierten Staat“ wieder funktionsfähig zu machen und Korruption auszumerzen, berührt Paz neuralgische Punkte. Er will weniger Staat und mehr Markt. 

Einen Gutteil seiner Wahlversprechen richtet er gleichzeitig an die Ärmsten: Kern seines Programms ist der Slogan „Kapitalismus für alle“, was besonders viele ehemalige MAS-Wähler aus dem ländlich-bäuerlichen und indigenen Umfeld angesprochen hat. Viele von ihnen sahen zudem mit Sorge den Wahlkampf von Tuto Quiroga, der vor allem Kandidat der jungen Mittelschicht und der weißen Business-Elite war und angedroht hatte, nach 20 Jahren sozialistischer MAS-Regierung nun „alles zu verändern“.

Hoffnung auf lange überfällige Reformen

Paz’ Vize, der junge Ex-Polizist Edman Lara, hat keine politische Erfahrung, aber einen regen TikTok-Auftritt. Vor allem er brachte Paz die bisher linken Stimmen aus der ländlich-bäuerlichen und indigenen Bevölkerung. Passionierte Anti-Korruptions-Rhetorik hatte ihn zu einem „Helden des kleinen Mannes“ gemacht – er wird aber auch als loose canon wahrgenommen, mit selbstverherrlichenden Kommentaren sowie grandiosen, nicht umsetzbaren Versprechungen.

Ob sich das gegensätzliche Paar, das lange nicht geglaubt hatte, so weit zu kommen, zusammenraufen kann für eine effiziente Regierungsführung, ist ungewiss. Die Erneuerung der politischen Landschaft bringt Hoffnung auf lange überfällige Reformen.

Die Ergebnisse der beiden Wahlgänge am 17. August und am 19. Oktober bedeuten einen krassen Paradigmenwechsel für Bolivien. Die erste Runde hatte bereits eine historische Niederlage für die Linke gebracht, mit der krachenden Abwahl der lange hegemonial herrschenden sozialistischen MAS-Bewegung. Die Erneuerung der politischen Landschaft bringt Hoffnung auf lange überfällige Reformen. Es besteht aber auch das Risiko, dass es eine kurzlebige Regierung wird. Die Geduldsfäden sind nur noch dünn. Viele Menschen erwarten, dass sich mit dem entschieden herbeigewählten Wandel nun auch schnell Verbesserungen einstellen. Die Probleme sind allerdings strukturell; es wird Jahre dauern, sie zu bewältigen.

20 Jahre „Bewegung zum Sozialismus“

Fast 20 Jahre lang hat die „Bewegung zum Sozialismus“ (Movimiento al Socialismo, MAS) in Bolivien regiert. Unter dem ersten indigenen Präsidenten Evo Morales konnte sie ab 2005 Armut und Ungleichheit in der indigenen Mehrheit im Land erheblich verringern. In den vergangenen Jahren hat die MAS das Land allerdings in eine schwere Multikrise geritten. 

Bei der letzten Wahl 2020 wurde Luis Arce noch mit Unterstützung von Evo Morales zu dessen Nachfolger gewählt. Nach der Wahl begannen allerdings interne Konflikte um die Macht, die zu einer Spaltung des linken Lagers führten. Das Ergebnis war die Lähmung der Regierungsarbeit, die Aushöhlung der Gewaltenteilung und eine Politisierung der ohnehin schon weitgehend korrupten Justiz. Gleichzeitig rutschte das Land wegen der Erschöpfung der Gasreserven, wegen des Rückgangs der Exporte und damit der größten Einkommensquelle in eine massive Wirtschaftskrise, angesichts derer viele Menschen zurück in die Armut fielen.

Bolivien hat es in seinen Boom-Jahren versäumt, die Produktion zu diversifizieren und Wertschöpfungsketten im Land aufzubauen. Mit dem Versiegen der Erdgasquellen kommen immer weniger Dollars ins Land – doch diese werden für den Import von Gütern des täglichen Lebens sowie von Benzin und Diesel gebraucht. Letztere werden im Inland stark verbilligt abgegeben. Die Subventionen sind die schwerste Bürde für den Haushalt, während die Schlangen vor den Tankstellen wachsen. 

Paz ohne eigene Mehrheit

Die bisherige Regierung musste zuletzt ihre Goldreserven unter das vorgeschriebene Limit verkaufen, um zumindest zeitweise Treibstoffe zur Verfügung stellen zu können. Wie Paz angesichts leerer Staatskassen nach der Regierungsübernahme am 8. November die Milliarden aufbringen will, um die Importe zu bezahlen, ist unklar. Volle Tanks – oder ein Stillstand von Handel und Verkehr? Diese Frage könnte zu einem frühen Stolperstein für die neue Regierung werden. Gleichzeitig ist die Wirtschaft bereits in der Rezession und die Inflation lag im September 2025 bei rund 23 Prozent.

Paz wird es nicht leicht haben. Er verfügt zwar über die größte Fraktion im Parlament, aber nicht über eine eigene Mehrheit. Er muss also paktieren, um quasi ab Tag eins der neuen Regierung harte Strukturreformen anzugehen. Darunter: der Abbau der Treibstoff-Subventionen und die Reduzierung staatlicher Ausgaben. Was allerdings die zentrale Herausforderung angeht, nämlich die Abfederung der größten Härten für die Ärmsten, dazu blieb er im Wahlkampf vage.

Die Rolle der Linken

Progressive Ideen fehlen auch hinsichtlich der ökologisch verträglichen Umgestaltung der Wirtschaft. Bolivien ist der viertgrößte Amazonas-Staat mit einer der größten Biodiversitäten der Welt. Die Krise hat bereits Umweltschweinereien befördert wie den illegalen Goldabbau mithilfe von ungeheuren Mengen Quecksilber, die vergiftete Gewässer hinterlassen. Ein Problem mit regionalen und globalen Auswirkungen sind auch die oft absichtlich gelegten Waldbrände, die 2024 beispielsweise in fast weltrekordhaftem Ausmaß Millionen Hektar an natürlichen Flächen und Wald vernichtet haben, um landwirtschaftliche Flächen zu vergrößern. Sowohl Paz als auch Quiroga sprachen im Wahlkampf von mehr Rohstoffausbeutung, um die Wirtschaft zu retten – nicht von weniger.

Eine reformierte Linke hätte in der neuen, pluralen politischen Landschaft eine wichtige Rolle zu erfüllen als Garantin von Rechten, als Quelle progressiver Politikideen und als Vertretung von Gruppen, die sich weder vom Rechts-Kandidaten Quiroga noch vom Mitte-Kandidaten Paz vertreten fühlen. Das ist nach der Selbstzerstörung der MAS und der Desillusionierung ihrer Anhänger allerdings nun ein langwieriges Projekt des Aufbaus aus der Asche.

Einziger verbliebener potenter Vertreter der Linken ist derzeit Ex-Präsident Evo Morales. Morales war aus verfassungsrechtlichen Gründen zu der Wahl nicht zugelassen worden. In seiner Wut hatte er vor der ersten Wahlrunde seine Anhänger aufgefordert, sich zu enthalten; erneuernde Kandidaten wie den jungen Senatsvorsitzenden Andrónico Rodríguez hatte er sabotiert. Das sogenannte voto nulo erreichte fast 20 Prozent und wurde damit informell drittstärkste Kraft. Es wird erwartet, dass Morales Proteste gegen die Regierung triggern wird, sobald er es für opportun hält.

Bundesregierung als Partner

Für Deutschland und die EU bedeutet der Paradigmenwechsel Möglichkeiten, die Beziehungen mit Bolivien neu zu definieren und die neue demokratische Regierung in ihren Reformbemühungen zu stützen. Die ist außenpolitisch weitaus offener als die alte, die aus ideologischen Gründen ihre Sympathien mehr auf Staaten wie Russland, Venezuela, Kuba oder China fokussiert hatte. Der neue Präsident hat natürlich auch wegen der Krise Interesse an ausländischen Investitionen und Krediten und will mit seinem vielversprechenden Wirtschaftsteam Probleme wie die mangelnde Rechtssicherheit schnell angehen.

Die Bundesregierung sowie deutsche Unternehmen können hier als Partner in der Stabilisierung der Staatsfinanzen und bei der Diversifizierung der Wirtschaft auftreten. Von gemeinsamem Interesse sind Boliviens reiche Vorkommen an natürlichen Ressourcen, darunter seltene Erden und Lithium, das Potenzial für erneuerbare Energien und eine nachhaltigere Nutzung des Amazonas zum Schutz von Umwelt und Klima nicht nur in Bolivien. Nun gilt es, diese neuen Beziehungen aufzubauen und mit Leben zu füllen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im ipg-journal.de

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Autor*in
Christine-Felice Röhrs

Christine-Felice Röhrs leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Zuvor war sie Leiterin des FES-Büros im Sudan.

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Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 21.10.2025 - 13:22

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Die Formulierung "Nach 20 Jahren sozialistischer Herrschaft....." schläg dem Fass die Krone ins Gesicht. Da drin steckt so viel Abfällingkeit wie sie vieleich der Springer-Presse zuzuschreiben wäre, aber im sozialdemokratischen vorwärts ???????
Ein rechtsgerichteter Präsident wird da als Mann der Mitte präsentiert. Klar hat die Regierung Moralez und Nachfolger Fehler gemacht, aber die sozialpolitischen Leistungen, besonders in den Anfangsjahren, waren groß.
Ihr jubelt zusammen mit den Progressivisten aus den USA klammheimlich, daß eine Regierung beseitigt wurde die der Ausplünderung des Landes und seine Bewohner etwas entgegensetzte. Jetzt ist wieder der Weg frei für imperialistische neokoloniale Politik.
Pfui, schämt Euch.

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