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Bolivien vor der Wahl: Ende einer sozialistischen Bewegung?

Nach langer Zeit an der Macht ist die Linke Boliviens gespalten und geschwächt. Auch deshalb ist der Ausgang der Wahlen in knapp zwei Wochen ungewiss.

von Christine-Felice Röhrs · 5. August 2025
Der bolivianische Präsident Luis Arce

Der bolivianische Präsident Luis Arce begrüßt seine Anhänger vom Balkon des ehemaligen Regierungspalastes, zuvor hatte er angekündigt, bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 17. August nicht zur Wiederwahl anzutreten.

In zwei Wochen stehen in Bolivien historische Wahlen an. Vor 20 Jahren hatte dort ein politisches Projekt begonnen, das der indigenen Mehrheit im Land Würde, Rechte und Mitbestimmung bringen sollte. Unter Präsident Evo Morales und der lange von ihm geführten sozialistischen Bewegung MAS (Movimiento al Socialismo) reduzierten sich Armut, Analphabetismus und Ungleichheit zunächst enorm. 

In diesem Wahljahr wird die Hegemonie der MAS nach Jahren des Verfalls wohl enden. Ein politischer Paradigmenwechsel steht an – und das inmitten einer der schwersten wirtschaftlichen Krisen Lateinamerikas.

Die Hegemonie der MAS erodiert schon seit Jahren, mit enormen Konsequenzen für das Funktionieren der Demokratie im Land. Nach einer umstrittenen Wahl im Jahr 2019 hatte sie durch Neuwahlen ihre Zweidrittelmehrheit verloren. Danach zerbrach sie in zwei Lager – eins um den ehemaligen Präsidenten Morales und eins um seinen Nachfolger und heutigen politischen Feind, Luis Arce. 

Seither gehen sich die beiden Fraktionen ohne Rücksicht auf Verluste an den Kragen. Die Folge sind gegenseitige Blockaden im Parlament und damit die Paralyse der Regierungsarbeit sowie tiefe Gräben durch weite Teile der Gesellschaft. Begleitend zur Polarisierung wuchsen Korruption und Politisierung im Justizsystem, und eine massive Wirtschaftskrise entstand.

Evo Morales, Luis Arce und Andrónico Rodriguez

Viele Menschen haben mittlerweile die Geduld verloren mit der Misere. Umfragen zeigen vor den Wahlen am 17. August Rekordwerte des Misstrauens gegenüber staatlichen Institutionen. Für die Wahlen ist nun abzusehen, dass zum ersten Mal seit 2005 kein Kandidat mehr mit absoluter Mehrheit gewinnen wird – oder zumindest 40 Prozent der Stimmen und einen Vorsprung von zehn Prozent vor dem Nächstplatzierten aufweisen kann. Das würde dann eine Stichwahl im Oktober notwendig machen. Bisher schafft es keiner der Kandidaten in den Umfragen auf mehr als 20 Prozent.

Im linken Spektrum gibt es aktuell drei verschiedene Gruppierungen, die aus der zersplitterten MAS hervorgegangen sind. Erstens die von Evo Morales, der mit EVO Pueblo seine eigene Bewegung gegründet hat. Morales selbst wurde allerdings schon früh von den Wahlen ausgeschlossen. Kritiker sprechen von politischen Intrigen, es gibt aber auch verfassungsrechtliche Gründe für das Verbot einer weiteren Amtszeit. Aufgrund eines Strafverfahrens und Vorwürfen des Missbrauchs von Minderjährigen verschanzt sich Morales seit Monaten in seiner Heimat, der Koka-Anbau-Region Chapare, und klagt über Verfolgung.

Zweitens gibt es die Fraktion von Präsident Luis Arce, die weiterhin unter der MAS firmiert. Deren Präsidentschaftskandidat ist der Staatsminister Eduardo del Castillo, mit – angesichts des schlechten Krisenmanagements der Regierung – bisher sehr niedrigen Zustimmungswerten. 

Kandidaten: weiß und männlich

Und drittens sind da die Anhänger eines mit Hoffnung betrachteten Kronprinzen der Linken: Andrónico Rodriguez, ehemals MAS, ehemals Ziehkind von Evo Morales und derzeit Präsident des Senats. Rodriguez hat erst vor kurzem entschieden, anzutreten. Es brauche ein „neues politisches Projekt“, sagt er und wirbt nun mit der Wirtschaftsexpertin Mariana Prado als Vize in der sogenannten Alianza Popular um Stimmen. Das Duo Andrónico-Prado ist damit das einzige, das ethnisch-kulturell sowie bezüglich der Balance der Geschlechter den Brückenbau versucht.

Die ausschließlich männlichen Präsidentschaftskandidaten der weitgehend „weißen“ Opposition wiederum haben es versäumt, sich eine breitere soziale Legitimität zu verleihen. Und das, obwohl eine der größten Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ausdrücklich die „interkulturelle und paritätische“ Demokratie ist. Ihre Zusammensetzung würde die Fähigkeit dieser Kandidatenpaare, das gespaltene Land wieder zu einen, wohl reduzieren. 

Unter den in den Umfragen bisher erfolgreicheren Kandidaten sind angesichts der Krise vor allem jene, die sich das Thema Wirtschaft zu eigen gemacht haben. Der wohlhabende Geschäftsmann Samuel Doria Medina nennt seine Politik sozialdemokratisch, was in Teilen zutrifft. Ex-Präsident Tuto Quiroga präsentiert sich ebenfalls mit einem wirtschaftslastigen Programm. Dem Bürgermeister von Cochabamba, Manfred Reyes Villa, kommt sein erfolgreiches Stadt-Management zugute.

Minderheitsregierung möglich

Im Gesamtblick erreichen zurzeit nur vier der acht Kandidaten nennenswerte Zustimmung. Dabei liegen je nach Umfrage oft entweder Geschäftsmann Medina oder Ex-Präsident Quiroga vorne, gefolgt vom linken Rodriguez und Bürgermeister Reyes Villa. Sollte sich das fragmentierte Bild bis zum Wahltag erhalten, könnte Bolivien, wie schon zwischen 1985 und 2005, von einer Minderheitsregierung mit geringer Beschlussfähigkeit geplagt sein. Politische Akteure dürften es in diesem Fall schwer haben, die notwendigen Koalitionen einzugehen, was die Paralyse der Regierungsführung noch verstärken könnte. Und das angesichts enormer Reformbedarfe in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas.

Ganz besonders dringend sind die hinsichtlich der Wirtschaft: Bolivien fährt bisher ein fast ausschließlich extraktives Modell, das sich auf den Export natürlicher Ressourcen konzentriert und kaum eigene Industrie aufweist. Bisher stammt der größte Teil der Staatseinnahmen aus den Gasexporten. Die werden jedoch 2025 kaum ein Viertel des Wertes von 2014 erreichen und könnten bis 2028 ganz abebben. Die enormen Lithiumvorräte sind wiederum nicht die große Hoffnung, als die Teile der Politik sie verkaufen wollen. Hier fehlt es an Einigkeit hinsichtlich der Aufteilung von Profiten, an Investoren und an Rechtssicherheit für dieselben. Kürzlich geschlossene Vereinbarungen mit Russland und China lassen offen, wann und ob überhaupt der Abbau beginnen kann. Während das BIP-Wachstum bis 2014 noch bei bis zu sieben Prozent lag, soll es bis Ende 2025 nur noch ein Prozent werden. Gleichzeitig verausgabt sich der Staat mit hohen Subventionen für Treibstoffe.

Wirtschaft in der Krise

Die Wirtschaft generiert so kaum noch die Dollar, die gebraucht werden, um viele Güter des täglichen Lebens zu importieren – vor allem Diesel und Benzin. Ohne sie liegt alles lahm. Das Land lebt mittlerweile von Treibstoff-Lieferungen, die auf fünf bis acht Schiffe passen und jeweils nur wenige Wochen reichen. Das führt zu kilometerlangen Schlangen vor Tankstellen und auch zur Sorge, ob die extreme Verknappung die Wahlen beeinträchtigen könnte. 

Die Teuerungsrate, die lange zu den niedrigsten in Lateinamerika gehörte, ist nun die dritthöchste, übertroffen nur von der Argentiniens und der Venezuelas. Analysten befürchten, dass die neue Regierung, die im November 2025 übernehmen soll, quasi zahlungsunfähig sein wird. Ihre Kreditwürdigkeit wiederum wird von Fitch Ratings nur noch auf CCC– eingestuft. Das heißt: Mit einer ungenügenden Bonität steigt die akute Gefahr eines Zahlungsverzugs. Im Hintergrund macht all das derweil die Fortschritte in der Reduzierung von Armut und Ungleichheit wieder zunichte.

Welcher Präsidentschaftskandidat diese komplexe Lage an Krisen überwinden könnte, ist unklar. Er oder sie bräuchte den Rückhalt einer breiten gesellschaftlichen und politischen Front. Die Kandidatenlage gleicht allerdings noch kurz vor den Wahlen mitunter einer Telenovela voller Intrigen. Im linken Spektrum beispielsweise wird der aussichtsreichste Kandidat Andrónico Rodriguez gnadenlos aus den eigenen Reihen attackiert. Evo Morales, der dem Ziehsohn die Konkurrenz übelnimmt, brandmarkt ihn als „Verräter“ und spaltet die indigenen Wähler. 

Zerstrittene Linke

„Ohne Evo auf dem Stimmzettel“ könne es keine Wahlen geben, schimpft er. Seine Anhängerschaft ist zwar geschrumpft, aber weiterhin nicht unerheblich. Sollte er in letzter Minute doch noch beschließen, einen der linken Kandidaten zu unterstützen, könnte er dessen Aussichten erheblich verbessern. Aber mit radikaler Rhetorik hat er selbst die Barrieren dafür kontinuierlich erhöht.

Im Juni hatten Morales’ Anhänger Massendemos und Straßenblockaden organisiert, bei denen mindestens fünf Menschen starben. Hier liegt eine Gefahr, sowohl für die Wahlen als auch für die bolivianische Demokratie. Weitere, strategisch platzierte Blockaden könnten in dem gebirgigen Land mit seiner schlechten Infrastruktur die Stimmenabgabe für viele andere erschweren. Und sollte Morales in seinem „Fürstentum“ Chapare Wahlen nicht zulassen oder sollten seine Anhänger die Wahlen boykottieren, wären Hunderttausende in dem Zwölf-Millionen-Land an den Wahlen nicht beteiligt und würden sich weder mit dem Wahlprozess noch einem Gewinner identifizieren. 

Je nach Ausmaß potenzieller Störungen könnte das auch Fragen hinsichtlich der Legitimität der gesamten Wahlen aufwerfen – und damit den erhofften Politikwandel, dringend benötigte Reformen und wirtschaftlichen Aufschwung in noch weitere Ferne rücken.

Autor*in
Christine-Felice Röhrs

Christine-Felice Röhrs leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bolivien. Zuvor war sie Leiterin des FES-Büros im Sudan.

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