Parteileben

SPD-Parteitag: „Ich hätte mir noch etwas mehr Aufbruch gewünscht“

Drei Tage Debatte und ein Beschluss zur Neuaufstellung: Das war der Parteitag der SPD. Im Gespräch ziehen Juso-Chef Philipp Türmer und der Vorsitzende der AG 60plus, Lothar Binding, ihr persönliches Fazit. Hitzig wurde es vor allem bei einer Frage.

von Kai Doering · 1. Juli 2025
Philipp Türmer und Lothar Binding im Gespräch in der vorwärts-Redaktion

„Ich bin mir sicher, dass Russland verstehen wird, dass es eine ganz andere Zukunft haben kann, wenn es einen friedlichen Weg geht.“ „Genau da sehe ich einen Denkfehler.“ Philipp Türmer und Lothar Binding diskutieren über den richtigen Umang mit Putins Russland.

Der Parteitag zur Aufarbeitung des verheerenden Ergebnisses bei der Bundestagswahl liegt hinter der SPD. Sind Sie zufrieden?

Lothar Binding: Im Großen und Ganzen ja. Ich hatte die Hoffnung, dass dieser Parteitag eine gute Basis für die Zukunft schafft. Das ist besonders dort gelungen, wo wir inhaltlich große Themen, offen und öffentlich diskutiert haben. Nach meinem Verständnis formuliert ein Parteitag eine Vision für die Zukunft entlang unserer Ideale und Grundwerte. Wichtig ist dabei allerdings, dass die Bürgerinnen und Bürger dabei verstehen können, dass die Ideale nicht das sind, was schlussendlich im Gesetz landen wird, weil Regierungshandeln in einer Koalition immer einem Kompromiss im Parlament folgt.

Philipp Türmer: Ich hätte mir noch etwas mehr Aufbruch gewünscht. Vor einem Parteitag weiß man ja nie, wie er sich entwickeln wird. Ich habe auch schon Parteitage der SPD erlebt, die eher ein großes Festival des Selbstbetrugs gewesen sind. Während draußen die Situation miserabel war, hat man sich innen stehend Mut herbeigeklatscht, ohne sich den tatsächlichen Problemen zu widmen. So etwas wäre in der aktuellen Situation noch fataler als sonst gewesen. Der Leitantrag hat durchaus Fehler der Vergangenheit thematisiert. Doch wenn wir ehrlich sind: Der Weg der Aufarbeitung und insbesondere auch der programmatischen Neupositionierung geht jetzt erst richtig los.

Binding: Das stimmt. Es wäre ein großer Fehler gewesen, jetzt einen Jubelparteitag zu veranstalten. Ich sage gern: Wir gewinnen den Parteitag und verlieren danach die Wahl. Manche halten eine ernsthafte Debatte für Streit, tatsächlich lernen auf diese Weise viele Leute erst die Probleme und unsere Lösungsvorschläge kennen.

„Veränderung beginnt mit uns“ lautet der Titel des Beschlusses, mit dem die Neuaufstellung der SPD eingeleitet werden soll. Reicht er für die Erneuerung aus?

Türmer: Es muss der erste Schritt sein. Der Beschluss ist am Ende das Gerüst, an dem wir uns als Partei in den nächsten Jahren orientieren werden. Ich finde auch, dass der Beschluss an vielen Stellen die richtigen Fragen stellt. Mit einigen guten Änderungsanträgen – nicht zuletzt der Jusos – ist es uns gelungen, noch klarer eine Richtung vorzugeben, wohin es jetzt gehen soll.

Philipp Türmer

29, ist Vorsitzender der Jusos.

Philipp Türmer in der vorwärts-Redaktion

Philipp
Türmer

Wir sind eine klar linke Volkspartei und als Partei der Arbeit ist es unser Anspruch, insbesondere Arbeiter*innen und Arbeiternehmer*innen zu vertreten. Das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen.

Woran denken Sie dabei?

Türmer: Wir sind eine klar linke Volkspartei und als Partei der Arbeit ist es unser Anspruch, insbesondere Arbeiter*innen und Arbeiternehmer*innen zu vertreten. Das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen. 

Binding: Fragen sind ein gutes Stichwort, denn oft fragen wir nicht richtig, sondern geben Antworten auf nicht gestellte Fragen oder lösen Probleme, die noch niemand gesehen hat. So kann man keine Zukunft gestalten. Das Stichwort Arbeit finde ich im Beschluss gut entwickelt, manch anderes fehlt mir dagegen: die Frage nach dem Klimaschutz etwa oder die Themen Frieden, Kinderarmut oder Frauenpolitik.

Im Beschluss ist von einem tiefgreifenden Vertrauensverlust der SPD die Rede. Wie macht sich der in den Bevölkerungsgruppen, die Sie vertreten, bemerkbar?

Türmer: Mein Eindruck ist, dass es gerade in der jungen Generation eine hohe Zustimmung zu sozialdemokratischen Werten gibt. Aber durch die jahrelange Regierungsbeteiligung und das auch teilweise unscharfe Profil der SPD ist bei den jungen Menschen das Vertrauen verloren gegangen, dass die SPD auch konsequent für diese Werte eintritt. Wir selbst haben als Partei noch einen Beitrag dazu geleistet, indem wir uns immer mehr mit dem Verwalten und minimalen Verbesserungen des Status quo zufriedengegeben haben, statt eine größere Vision zu zeichnen, wie die Gesellschaft aussehen soll. Aber nur mit einem klaren Zukunftsbild, das gerade der jungen Generation wichtig ist, lässt sich die Zukunft auch gestalten.

Binding: Das wünscht sich nicht nur die junge Generation. Es gibt Dinge, die wir – unsere Partei – viele Jahrzehnte als Monstranz vor uns hertragen, aber nicht so recht mit Leben füllen. Es gibt beispielsweise ein super Konzept: die Erwerbstätigenversicherung für die Rente oder besser: für die Altersvorsorge. Das ist übrigens kein Thema für die Generation 60 plus, sondern eines für die Jusos. Leider schaffen wir es bisher nicht, dieses Konzept auch umzusetzen. Ähnlich ist es mit dem Völkerrecht, das wir zurecht als ein hohes Gut ansehen. Wenn wir aber – ebenfalls zurecht – Putins Angriff, als völkerrechtswidrig bezeichnen, dann können wir nicht einfach Waffen an Netanjahu liefern, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. All das trägt zum Vertrauensverlust in unsere Politik bei.

Türmer: Es muss eben immer eine klare Linie der Partei erkennbar sein, die auch neben der Regierungsarbeit steht. Die Sozialdemokratie war immer dann am stärksten, wenn sie die Menschen nicht nur als Partei verstanden haben, sondern als Bewegung. Wenn man sich in der SPD engagiert hat, war klar, dass man an einem größeren Projekt mitarbeitet, das viel länger ist als eine Legislatur. Im besten Fall ging es um die Lebensaufgabe, diese Gesellschaft zu einer zu machen, in der es nicht immer nur ganz wenige Gewinner auf Kosten ganz vieler Verlierer gibt, sondern die grundsätzlich gerechter funktioniert. Als SPD muss es uns wieder gelingen, diese gerechteren Gesellschaftsvorstellungen zu bedienen.

Kann das neue Grundsatzprogramm, das nun erarbeitet werden soll, das leisten?

Türmer: Mein Eindruck ist, wenn ich zehn Menschen aus der Partei frage, welches Zukunftsbild sie mit der SPD verbinden, dann bekomme ich 20 verschiedene Antworten. Das geht nicht. Es muss klar sein, für was wir stehen. Diese Klarheit kann und muss von einem Grundsatzprogramm ausgehen. Das „Hamburger Programm“ von 2007 wurde ja geschrieben, um in der Welt nach dem Mauerfall anzukommen und hat im Ergebnis nur dazu gedient, die Partei irgendwie nach den Agenda 2010 Beschlüssen unter Schröder zu befrieden. Und das merkt man diesem Grundsatzprogramm überall an. Orientierung gibt es aber nicht. Das muss mit dem neuen Programm anders werden.

Lothar Binding

75, ist Vorsitzender der AG 60plus.

Lothar Binding im Gespräch mit Philipp Türmer in der vorwärts-Redaktion

Lothar
Binding

Was uns nicht passieren darf, ist eine Pseudobeteiligung, dass wir also breit dazu aufrufen, Ideen und Vorschläge einzubringen, sich diese aber am Ende nirgends wiederfinden.

Binding: Damit das neue Grundsatzprogramm ein Erfolg wird, ist ganz entscheidend, wie es erarbeitet wird. Geplant ist ein breiter Beteiligungsprozess, auch über die Partei hinaus. Das finde ich gut. Wir haben mitunter sehr gute Ziele, doch niemand weiß so recht, wie wir sie erreichen wollen. Was uns nicht passieren darf, ist eine Pseudobeteiligung, dass wir also breit dazu aufrufen, Ideen und Vorschläge einzubringen, sich diese aber am Ende nirgends wiederfinden.

Türmer: Das stimmt. Ich habe schon so viele Prozesse innerhalb der SPD erlebt, bei denen ich in irgendwelchen Kongresshallen Dinge auf große Papierbögen geschrieben haben, die dann wahrscheinlich in irgendeinem Keller verschwunden sind. Das darf nicht passieren. Ich stelle mir den Beteiligungsprozess auch ganz anders vor. Mit KI-gestützter Technik haben wir doch heute ganz andere Möglichkeiten große Mengen an Rückmeldungen und Input zu verarbeiten als noch vor einigen Jahren. Die sollten wir nutzen.

Binding: Wir müssen uns auch fragen: Wie hören wir eigentlich zu? Dafür brauchen wir vor allem Einfühlungsvermögen und ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Lebenslagen. Wenn die Menschen spüren, dass unser Interesse ehrlich ist und ihre Meinungen im Programm ankommen, dann haben wir schon viel gewonnen.

Eine Debatte, die auch auf dem Parteitag geführt wurde, ist der richtige Umgang mit Russland. Sie haben das „Manifest“ unterschrieben, Lothar Binding, das mehr Diplomatie fordert. Warum haben Sie nicht unterzeichnet, Philipp Türmer?

Türmer: Erstmal finde ich es richtig, dass man sich über die großen Linien der Friedenspolitik Gedanken macht. Und ich finde beispielsweise die Kritik im „Manifest“ am Fünf-Prozent-Ziel auch absolut erforderlich.Als Jusos haben wir immer kritisiert, dass es keinen Sinn macht, einseitig über Prozentzahlen des BIPs bei der Aufrüstung zu reden. Stattdessen müssen wir darüber reden, welche Fähigkeiten die Bundeswehr haben muss. Das Problem, das ich mit dem Manifest habe, ist, dass es meiner Ansicht nach versucht, Glaubenssätzen aus der Zeit des Kalten Krieges in das Hier und Jetzt zu übertragen. Wir haben aber keinen Kalten Krieg in Europa, sondern einen heißen Krieg in der Ukraine. Und über Frieden und Sicherheit in Europa, entscheidet gerade vor allen Dingen die kurzfristige Solidarität mit der Ukraine und die Frage, wie man Druck auf die russische Seite ausübt, endlich auch an Friedensgesprächen teilzunehmen. Diplomatie scheitert im Moment nicht an uns oder der Ukraine, sondern allein an Russland. Diese Perspektive kommt im „Manifest“ aber nicht vor.

Generationengespräch

Zwischen Philipp Türmer und Lothar Binding liegen 46 Lebensjahre.

Philipp Türmer und Lothar Binding mit Zollstock in der vorwärts-Redaktion

Philipp
Türmer

Die Sowjetunion und das heutige Russland sind nicht vergleichbar, deshalb muss auch die Strategie im Umgang angepasst werden.

Binding: Den Reflex „Putin will ja gar nicht mit uns reden“ habe ich schon häufiger gehört. Trotzdem finde ich es wichtig, eine Debatte in Richtung mehr Diplomatie zu entwickeln. Das könnte z.B. eine ständig wiederkehrende Konferenz sein, bei der man Diplomaten, Parlamentarier und Regierungsvertreter einlädt. Eine solche Plattform könnte ein Bewusstsein dafür schaffen, was Russland und andere Länder für den Frieden bekommen: Reichtum zum Beispiel oder eine bessere Umwelt. Permafrost, also dauerhaft gefrorener Boden, bedeckt in Russland etwa 65 Prozent der Landesfläche – er schmilzt. Ein Desaster. Wir müssen es schaffen, Putin zu überzeugen, dass es sich für Russland lohnt, in Frieden zu leben.

Türmer: Wie glaubst du, kann das funktionieren?

Binding: Indem man insbesondere Vertreter vieler Länder unterschiedlicher Nähe zu Russland, einlädt, oder die mit Russland freundschaftliche Beziehungen pflegen. Ein längerfristiges Projekt.

Türmer: Aber du setzt auf Überzeugung, nicht auf Druck?

Binding: Auf Überzeugung durch diplomatischen Druck, weil ich weiß, dass es keine andere Lösung von Dauer gibt. Ich bin mir sicher, dass Russland verstehen wird, dass es eine ganz andere Zukunft haben kann, wenn es einen friedlichen Weg geht. Vergleiche hinken, aber manchmal denke ich an Frankreich: vom Erzfeind zum Bündnisfreund.

Türmer: Genau da sehe ich einen Denkfehler. Die Sowjetunion und das heutige Russland sind nicht vergleichbar, deshalb muss auch die Strategie im Umgang angepasst werden. Ich kann bei Putin nicht einmal ansatzweise erkennen, dass er für das russische Volk etwas Gutes beabsichtigt. Ihm und seinen Oligarchen-Freunden geht es nur um den eigenen Gewinn. Sein eigenes Volk ist ihm vollkommen egal. Es gibt keinen höheren Wert, an den man bei Putin appellieren kann. Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Idee der Überzeugungen aufgehen wird.

Zum Schluss noch ein Punkt, bei dem Sie sich vielleicht eher einig sind: Einstimmig hat der SPD-Parteitag beschlossen, dass die SPD sich für die Prüfung eines AfD-Verbots starkmachen soll. Warum sind Sie dafür?

Türmer: In Sachen AfD-Verbot liegt inzwischen alles auf dem Tisch. Wir kennen die juristischen Voraussetzungen und es gibt umfangreiche Sammlungen, die meiner Ansicht nach belegen, dass die AfD sowohl die Demokratie als auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen will, dass sie mit der Gewaltenteilung nichts am Hut hat und dass man sich sicher sein kann, dass wenn die AfD einmal regiert, sie grundlegenden Schaden an unserer Demokratie anrichtet. Jetzt geht es nur noch darum, ob der politische Wille da ist oder nicht. Wer sich, wie die CDU, hinter juristischen Argumenten und Beweisfragen versteckt, verschleiert damit nur, dass er politisch nicht den Mut hat, dieses Verbotsverfahren jetzt auch voranzutreiben. Deshalb bin ich sehr froh, dass der Parteitag mit dem einstimmigen Beschluss ein klares politisches Signal gesendet hat, jetzt unverzüglich dieses Verfahren einzuleiten.

Binding: In diesem Punkt sind wir uns wirklich sehr einig. Ich denke, du hast recht, wenn du sagst, dass es Politiker gibt, die ein AfD-Verbot eigentlich gar nicht wollen, dies aber nicht offen zugeben. Denen scheint gar nicht bewusst zu sein, welches Risiko sie damit für unsere Demokratie eingehen. Deshalb bin ich auch für ein Prüfverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Allerdings muss sichergestellt sein, dass die Arbeit des Verfassungsschutzes also unseres Inlandsgeheimdienstes, ein solches Verfahren nicht untergräbt. Das erste NPD-Verfahren ist ja an V-Leuten des Verfassungsschutzes gescheitert. So etwas darf uns künftig nicht passieren.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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