Neuaufstellung der SPD: „Wir müssen es gemeinsam hinkriegen“
Die SPD stellt sich neu auf – inhaltich, organisatorisch und finanziell. Generalsekretär Tim Klüssendorf und Schatzmeister Dietmar Nietan erklären, wie der Stand ist und wo es schwierig werden kann.
Dirk Bleicker
Arbeiten an der Neuaufstellung der SPD: Generalsekretär Tim Klüssendorf (l.) und Schatzmeister Dietmar Nietan.
Die SPD hatte in ihrer mehr als 160-jährigen Geschichte schon einige Grundsatzprogramme. Welches hat die Partei am meisten geprägt?
Tim Klüssendorf: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil viele Programme ihre Spuren in der SPD hinterlassen haben. Ich persönlich habe den engsten Bezug zum Godesberger Programm von 1959. Wenn man den Geist dieses Programms ergründet, dann versteht man schnell, wie die Sozialdemokratie auch heute noch Antworten auf ganz praktische Herausforderungen finden kann. Und vor allem versteht man, mit welcher Wortgewalt sozialdemokratische Sprache die Menschen begeistern kann.
Dietmar Nietan: Auch für mich ist das Godesberger Programm sehr prägend, weil es die SPD in eine neue Zeit geführt hat. Schon auf der ersten Seite steht ein Satz, den ich sehr passend für die Sozialdemokratie finde: „Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft öffnet dem Mensch den Weg in seine Freiheit.“ Das Godesberger Programm hat eben nicht nur gute Inhalte, sondern zeigt sie auch in der Kraft seiner Worte. Dass sich die SPD und ihre Mitglieder damals auf die neue Zeit mutig eingelassen haben, finde ich schon beeindruckend.
Klüssendorf: Und das Godesberger Programm hat auch gezeigt, dass es möglich ist, sozialdemokratische Grundsatzpolitik auf 20 Seiten zu bringen und man dafür nicht 120 oder mehr Seiten braucht.
Mit dem Godesberger Programm wurde die SPD zur Volkspartei und ebnete den Weg zur Kanzlerschaft Willy Brandts. Bis 2027 will die SPD ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten. Was soll es leisten?
Klüssendorf: Genau über diese Frage haben wir bei der ersten Sitzung des Programmrats am 13. Oktober diskutiert. Das neue Programm soll es schaffen, unsere Programmatik im Grundsatz zu formulieren und eine Vision für die nächsten 20 Jahre aufspannen. Wir wollen damit auch auf Veränderungen, die man jetzt noch nicht vorhersehen kann, vorbereitet sein und reagieren können. Es soll ein sehr robustes Wertegerüst schaffen, von dem ausgehend wir dann politische Ableitungen ziehen können. Im Kern geht es darum, wie die Sozialdemokratie in einer modernen, sich stark verändernden Welt positioniert ist und welche Haltung sie vertritt.
Nietan: Der Wunsch nach Orientierung ist in allen Gesellschaften sehr groß – ganz besonders in einer Zeit, die viel Unsicherheit und Veränderung mit sich bringt. Wenn eine politische Formation keine Orientierung bieten kann, traut man ihr auch nicht zu, Probleme zu lösen. Es geht eben nicht um das Klein-Klein des richtigen Instrumentenmixes wie es Parteien so gerne betonen, sondern es geht darum, basierend auf den eigenen Werten, einen mutigen Gestaltungsanspruch auf die Zukunft zu haben und dadurch eben auch Orientierung zu bieten. Ich denke, das kann uns mit dem neuen Programm und dem Weg dorthin gelingen.
Tim Klüssendorf
Die Menschen müssen wieder den Eindruck gewinnen, dass wir auf die großen Herausforderungen unserer Zeit die richtigen Antworten haben.
Eine Erkenntnis der verlorenen Bundestagswahl ist, dass viele Menschen der SPD nicht mehr vertrauen, dass sie die Dinge, die sie verspricht, auch wirklich umsetzt. Kann mit dem neuen Grundsatzprogramm Vertrauen zurückgewonnen werden?
Klüssendorf: Das ist natürlich unser Ziel. Vertrauen gewinnt man nicht nur zurück, indem man einen Koalitionsvertrag bestmöglich eins zu eins umsetzt. Vor allen Dingen müssen die Menschen wieder den Eindruck gewinnen, dass wir auf die großen Herausforderungen unserer Zeit die richtigen Antworten haben.
Es finden gerade umwälzende Entwicklungen auf diesem Planeten statt, egal ob es um die internationale Sicherheitslage geht, oder ob es Künstliche Intelligenz oder die Macht der Digitalkonzerne ist, mit all den Auswirkungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Ich nehme da auch ein gewisses Ohnmachtsgefühl in der Bevölkerung wahr. Wir werden dann Vertrauen zurückgewinnen, wenn wir darauf die richtigen Antworten haben und den Menschen klar eine Perspektive aufzeigen können.
Nach der verlorenen Wahl hat sich die SPD eine umfangreiche Erneuerung verordnet. Das neue Grundsatzprogramm ist dabei nur einer von mehreren Punkten. Wie ist der Stand?
Klüssendorf: Seit dem Bundesparteitag hat sich einiges getan. Wir haben in der Organisation des Willy-Brandt-Hauses bereits wesentliche Veränderungen vorgenommen, haben Abteilungen und Arbeitsschwerpunkte neu strukturiert. Besonders die Kommunikation der Partei wollen wir jetzt auf neue Beine stellen und werden ab Mitte November auch eine neue Abteilungsleitung Kommunikation im Willy-Brandt-Haus begrüßen. Die Verzahnung mit der Bundestagsfraktion soll ebenfalls besser werden als in der Vergangenheit.
In wesentlichen Punkten sind wir also gerade schon auf einem guten Weg und arbeiten jeden Tag sehr intensiv daran, sind aber weiter mitten im Prozess, der auch nicht in drei Monaten abgeschlossen sein kann. Unser Ziel ist, schnellstmöglich in dieser sich stark verändernden Welt kampagnenfähig zu sein. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass uns das auf jeden Fall gelingen wird, wenn wir so ambitioniert bleiben wie in den letzten drei Monaten.
Nietan: Für all das brauchen wir natürlich eine funktionierende Parteiorganisation. Zurzeit wird sie den Ansprüchen an eine moderne politische Formation im 21. Jahrhundert leider nicht gerecht. Stattdessen stammt vieles noch aus dem vorigen Jahrhundert. Eine moderne Kommunikation zum Beispiel ist nur dann gewährleistet, wenn wir die Möglichkeit haben, datenbasierte Wahlkämpfe zu führen. Dafür brauchen wir aber eine moderne Personendatenbank, die unsere derzeitige Mitgliederverwaltung so nicht mehr darstellt. Wir brauchen auch andere, schnellere Kommunikationswege zwischen Hauptamt und Ehrenamt. Wir brauchen digitale Tools, um Menschen zu informieren und zu beteiligen. Für all das müssen wir viele Millionen Euro investieren, denn nur, wenn wir die SPD inhaltlich, kommunikativ und organisatorisch auf die Höhe der Zeit bringen, werden wir erfolgreich sein.
Dietmar Nietan
Die SPD hat einen Schatz, den sie wieder stärker aktivieren muss und der heißt Solidarität.
Gleichzeitig muss die SPD sparen, weil Mitgliedsbeiträge fehlen und die Wahlkampfkostenerstattung geringer ausfällt. Wie soll dieser Spagat gelingen?
Nietan: Die SPD hat einen Schatz, den sie wieder stärker aktivieren muss und der heißt Solidarität. Durch sinkende Mitgliederzahlen nehmen auch unsere Einnahmen aus Beiträgen ab. Das trifft die SPD besonders hart, weil keine Partei so stark wie wir auf die Zahlungen ihrer Mitglieder angewiesen ist. Auch unser zweites Einnahmestandbein, die staatlichen Mittel aus der Parteienfinanzierung, wird kürzer, weil, von ein paar Ausnahmen abgesehen, unsere Stimmanteile bei Bundestags- und Landtagswahlen zurückgehen.
Trotzdem können wir alles, was wir für eine erfolgreiche Zukunft brauchen, finanzieren, wenn wir solidarisch sind. Deshalb haben wir eine einmalige Anhebung der Mitgliedsbeiträge beschlossen. Damit leistet jedes Mitglied seinen Beitrag dazu, die finanzielle Basis für die Modernisierung der Partei zu schaffen. Auch Ortsvereine und Kreisverbände, bei denen das Vermögen zum Teil seit Jahren wächst, müssen sich stärker finanziell beteiligen. Wir müssen weg vom Kirchturmdenken. Doppelstrukturen können wir uns auch finanziell nicht mehr leisten. Das aufzulösen wird nicht ganz einfach, aber wir müssen es gemeinsam hinkriegen, denn daran entscheidet sich, ob die SPD auch künftig wettbewerbsfähig ist.
Wie schnell muss sich hier etwas ändern?
Nietan: Der Bundesparteitag im Juni hat den Zeitplan vorgegeben und beschlossen, dass es eine gemeinsame Finanzplanung und gemeinsame Investitionen geben soll. Ebenso wurde beschlossen, dass ab 2027 von jedem Euro Mitgliedsbeitrag durch den sogenannten Vorabzug ein Anteil auf die Seite gelegt wird. Daraus wird ein Fonds gespeist, aus dem wichtige Zukunftsinvestitionen getätigt werden, wie etwa eine moderne Mitgliederdatenbank. Was die organisationspolitische Neuaufstellung angeht, haben wir seit 2019 auf den Parteitagen wichtige Dinge beschlossen. Die können – und müssen – wir in den kommenden eineinhalb Jahren umsetzen. Dafür müssen aber alle mitmachen.
Schafft die SPD all das, wenn sie gleichzeitig noch regiert?
Klüssendorf: Wir arbeiten jeden Tag hart dafür, dass es gelingt und ich glaube fest daran, dass wir es schaffen werden. Natürlich wird es immer eine Herausforderung sein, dass wir in einer Regierung Kompromisse machen müssen und uns gleichzeitig die Freiheit nehmen, die Grundüberzeugungen der SPD zu formulieren, gerade im Prozess für das neue Grundsatzprogramm.
Ich finde, wir sollten den Mut haben, auch mal Grenzen auszutesten und die Auseinandersetzung mit uns selbst und den politischen Mitbewerbern zu suchen. Wenn wir das gut hinbekommen und dabei solidarisch bleiben, dann werden wir ein starkes Profil entwickeln, mit dem wir bei der nächsten Bundestagswahl erfolgreich sein werden.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.