Matthias Miersch im Wahlkreis: Politik, Heimat und ein Tütchen Kartoffeln
Auf einer Pressereise durch seinen Wahlkreis zeigt sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch persönlich – und spricht Klartext zur GroKo, der Gefahr durch rechte Netzwerke und der Zukunftsfähigkeit der SPD.
Jonas Jordan/vorwärts
Zwei Tage lang bereiste der SPD-Fraktionsvoristzende Matthias Miersch seinen Wahlkreis und besuchte unter anderem Wennigsen, wo die SPD im Oktober 1945 durch Kurt Schumacher wiedergegründet wurde.
Matthias Miersch umarmt seine Mutter mit einem herzlichen Lächeln und schenkt ihr ein Tütchen Kartoffeln. Ein persönlicher Moment, der nicht ganz unbeobachtet bleibt. 60 SPD-Mitglieder und mehr als 20 Hauptstadtjournalist*innen schauen am frühen Dienstagabend im Calenberger Hof in Wennigsen zu. Der Termin ist der Abschluss einer zweitägigen Pressereise durch seinen Wahlkreis. Es geht um Politik, aber auch darum, den Menschen Matthias Miersch besser kennenzulernen. „Sie werden sehr viel von meiner Vita sehen“, verspricht er schon zum Auftakt am Montagmittag am Busmikrofon.
GroKo: Teambuildung im Abstiegskampf
Doch erst einmal geht es um die Bundespolitik, die Haltung der SPD-Fraktion zu Gaza, aber vor allem um die Stimmung innerhalb der Koalition nach der gescheiterten Wahl der von der SPD als Verfassungsrichterin vorgeschlagenen Frauke Brosius-Gersdorf. So etwas dürfe sich niemals mehr wiederholen, sagt Miersch mehrmals innerhalb der kommenden beiden Tage. Eine Klausurtagung der Fraktionsvorstände von SPD und CDU/CSU im bayerischen Würzburg soll dazu dienen, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen, eine neue Arbeitsgrundlage zu schaffen. „Wir müssen uns sehr schnell am Riemen reißen und beweisen, dass wir adäquat handlungsfähig sind“, fordert er.
Auch ein Grillfest beider Fraktionen ist geplant, um sich gegenseitig kennenzulernen, vielleicht vorhandene Vorurteile abzubauen. Das alles klingt nach Teambuilding, wie man sie sonst von der Saisonvorbereitung im Mannschaftssport kennt. Doch die GroKo fiebert nicht dem Saisonstart entgegen, sondern steckt nach drei Monaten schon im Abstiegskampf und die SPD im Umfragekeller bei 13 Prozent. Ausgerechnet einen Monat vor der wichtigen Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen – einst Herzkammer, heute Sorgenkind der Sozialdemokratie.
Anders sieht es in Niedersachsen aus, wo die SPD seit zwölf Jahren ununterbrochen regiert. Statt Stephan Weil steht seit einigen Monaten Olaf Lies an der Spitze des Landes, der die Journalist*innen am Abend zu einem Hintergrundgespräch trifft. Ansonsten geht es in Niedersachsen weiter wie vorher – geräuschlos, geschlossen, pragmatisch. Auch das schätzt Miersch, der nicht nur Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, sondern auch des Bezirks Hannover ist. Zu jedem Termin während der beiden Tage begleiten ihn sozialdemokratische Landtagsabgeordnete, Bürgermeister, Kommunalpolitiker*innen, so auch bei „TenneT“ in Lehrte, dem größten Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland. Ein Unternehmen der Superlative, das nach eigenen Angaben über eines der sichersten Netze weltweit und eine Ausfallrate von null verfügt.
Für die Bauern erst Anwalt, dann Gegner
Superlative gibt es auch einige Kilometer weiter bei einem Feldversuch in Uetze-Schwüblingsen, wo erkundet wird, wie die Produktivität in der Landwirtschaft gesteigert und verhindert werden kann, dass noch mehr Nitrat ins ohnehin schon stark belastete Grundwasser gelangt. „Wir haben in Niedersachsen ein Problem mit dem Grundwasser. Insofern müssen wir etwas tun. Die Frage ist, nur wie“, mahnt Miersch und lächelt tapfer, während er ohne Schatten in der prallen Sonne steht und sich alle Aspekte von den Landwirt*innen erklären lässt. Im Januar 2024 demonstrierten sie noch gegen ihn. Einige Jahre zuvor kämpfte der Anwalt Miersch hingegen an ihrer Seite in einem seiner bekanntesten Fälle erfolgreich für den Erhalt der Kartoffelsorte Linda.
An diesem Tag gibt es die Sorte Glorietta – gelb und festkochend. Landwirt Niels Kynast, auf dessen Feld der Versuch durchgeführt wird, hat für jede*n ein Tütchen vorbereitet als Dank für zwei Stunden Zuhören in der prallen Sonne. „Jetzt erkennt man uns an den Kartoffeln“, sagt Matthias Miersch, als er in Laatzen vor dem Hotel Haase aus dem Bus steigt. Unweit von hier ist er aufgewachsen, spielte als Torwart für die BSG Laatzen, seine Vorbilder waren Sepp Maier und Dino Zoff. Später tauschte er Torwarthandschuhe gegen Pfeife und sorgte als Schiedsrichter bis zur Bezirksliga für Gerechtigkeit im Sport. Sogar die Verbandsliga lockte.
Lokalpolitik statt Schiedsrichter
Doch Miersch entschied sich für die Lokalpolitik.1990 trat er in die SPD ein. 1991 wurde Miersch Mitglied des Rates der Stadt Laatzen mit ihren rund 42.000 Einwohner*innen und kehrte für dessen Sitzungen in die Aula der Albert-Einstein-Schule zurück. Drei Jahre zuvor hatte er dort seine Hochschulreife erworben und die Abi-Rede gehalten. Mit damals stylischer Vokuhila-Frisur, wie Schulleiter Christian Augustin mit Blick aufs Klassenfoto enthüllt. „Matthias Miersch ist mein Name. Ich bin 56 Jahre alt“, stellt er sich den mehr als 100 Schüler*innen in diesem Raum am Dienstagvormittag vor und fragt eine von ihnen: „Wann bist du geboren?“ Antwort: 2011. „Sechs Jahre bevor du auf die Welt gekommen bist, wurde ich das erste Mal in den Bundestag gewählt. Das ist eine verdammt lange Zeit“, erzählt Miersch.
„Jetzt machen wir mal einen Versuch. Ihr seid alle Abgeordnete“, sagt Matthias Miersch und startet eine Art Politik-Planspiel mit den Schüler*innen. Sie debattieren über die Einführung eines bundesweiten Tempolimits auf Autobahnen. Die große Mehrheit ist dagegen, aus Rücksicht auf die Freiheit und die Autoindustrie. Das erlebe er inzwischen häufiger, sagt Miersch. Klimaschutz sei für junge Menschen nicht mehr so wichtig. Zum Abschied gibt er ihnen den Rat mit: „Bringt euch ein! Sonst machen es andere und die machen es im Zweifel falsch!“
Tafel hat auch für Ukrainer*innen genug
Was ehrenamtliches Engagement bewirken kann, zeigen Hans-Jürgen und Renate Grethe seit mehr als zehn Jahren bei der Tafel in Sehnde. 200 Haushalte versorgen sie jeden Monat mit Essensspenden, die größte Gruppe unter ihnen sind Geflüchtete aus der Ukraine. Doch Konflikte mit den deutschen Stammkund*innen gab es keine. Man kennt sich in der Stadt mit ihren gut 25.000 Einwohner*innen, sagt auch SPD-Bürgermeister Olaf Kruse, der verkündet, dass die Tafel aus dem Provisorium einer alten Turnhalle bald in ein neues Domizil umziehen darf. Renate Grethe fordert aber auch, „dass die Unterstützung von armutsbetroffenen Menschen Raum in der Bundespolitik hat“.
Das ist auch Matthias Miersch wichtig, schon aus einer historischen Verpflichtung heraus. Denn einer seiner Vorgänger als SPD-Bezirksvorsitzender und auch als Fraktionsvorsitzender im Bundestag war Kurt Schumacher, der vor knapp 80 Jahren im Oktober 1945 wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Wennigsen die SPD neugründete. Daran erinnert wenige Schritte vom Bahnhof entfernt ein Gedenkstein, an dem Matthias Miersch Blumen niederlegt. „Damit einher geht eine enorme Verantwortung, die ich auch spüre“, sagt er.
Das Erbe von Kurt Schumacher
Schumachers Erbe weiterzutragen, sei für ihn Ehre und Verpflichtung zugleich.Denn für ihre Überzeugungen seien Sozialdemokrat*innen wie Schumacher ins Konzentrationslager gegangen. Auch deswegen warnt Miersch beim Calenberger Treff vor rechten Netzwerken. „Das muss uns alle alarmieren“, sagt er und betont, wie wichtig es sei, in einer unsicheren Welt für Sicherheit zu sorgen. Dann muss er los, zurück nach Berlin und verabschiedet sich von den Genoss*innen, seiner Mutter und seinem Wahlkreis, der ihn erde und ihm Kraft für weitere Sitzungen in Berlin gebe.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo