Wahlen in Chile: Was dem Ultrarechten José Kast zum Sieg verhalf
In Chile ist das progressive Lager gescheitert, José Antonio Kast gewinnt die Wahlen klar. Dabei profitiert der Rechtsextreme vom massiven Misstrauen gegenüber der linken Allianz.
IMAGO/Aton Chile
Zeitenwende in Chile: Der amtierende Präsident Gabriel Boric (l.) gratuliert seinem Nachfolger José Antonio Kast.
Mehr als 50 Jahre nach dem Militärputsch von Augusto Pinochet übernimmt mit José Antonio Kast ein Präsident die Macht, der sich weder von der Diktatur distanziert noch seine autoritären Traditionslinien je glaubhaft infrage gestellt hat. Der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers und NSDAP-Mitglieds gewann die Stichwahl mit 58,2 Prozent der Stimmen gegen die kommunistische Kandidatin Jeannette Jara, deren 41,8 Prozent mehr sind als ein bloßer Rückschlag: Sie markieren die Grenze eines progressiven Projekts, das seine Mehrheit verloren hat.
Der Sieg ist deutlich, flächendeckend und landesweit: Kast gewann in allen Regionen Chiles und in 312 von 346 Kommunen und übertraf in 78 Prozent der Wahllokale die 50-Prozent-Marke. Jara konnte nur punktuell überzeugen, etwa in Juan Fernández. Diese Verteilung unterstreicht: Kast ist nicht nur Gewinner der Wahl, sondern er hat es geschafft, eine tatsächliche nationale Mehrheit hinter sich zu vereinen.
Allianz aus Verunsicherung und Ärger
Erste Analysen nach Alter und Geschlecht zeigen eine klare Basis für Kast: Er dominierte in vier von sechs demografischen Gruppen, insbesondere bei Männern zwischen 35 und 54 Jahren (70 Prozent) und bei Frauen im gleichen Alterssegment (62 Prozent). Auch junge Männer unter 35 und ältere Männer über 54 unterstützten ihn mehrheitlich. Jara punktete nur bei jungen Frauen und Frauen über 54, während sie bei Männern keine Mehrheit erzielte. Die Daten verdeutlichen: Kast verfügt über eine breite, alters- und geschlechterübergreifende Basis – eine Allianz aus Verunsicherung, Ärger und dem Versprechen der harten Hand; Jara hingegen über einen eher selektiven Rückhalt.
Kasts Erfolg war nicht nur Ausdruck seiner eigenen Popularität, sondern auch Ergebnis der Bündelung rechter Stimmen. Die vorläufige Auswertung legt nahe, dass sich rund 55 Prozent der Franco-Parisi-Wähler für Kast entschieden, während Jara rund 25 Prozent der Matthei-Anhänger gewann. Diese strategische Konsolidierung auf der rechten Seite stand der Mitte-links-Kandidatin gegenüber, die es nicht schaffte, ihre Wählerbasis entscheidend zu erweitern. Der Anstieg ungültiger und „weißer“ Stimmen, vor allem bei unter 35-Jährigen, deutet auf Unzufriedenheit mit beiden Kandidaten und auf mögliche politische Erneuerungsräume hin – fiel aber wesentlich geringer aus als befürchtet.
Cäcilie
Schildberg
Das Ergebnis richtet sich nicht allein gegen Jara, sondern vor allem gegen die progressive Regierung der vergangenen Jahre.
Das Ergebnis richtet sich nicht allein gegen Jara, sondern vor allem gegen die progressive Regierung der vergangenen Jahre. Zwar distanzierte sie sich im Wahlkampf mehrfach von der Regierung – als deren erfolgreichste Ministerin sie galt –, doch ein Großteil der Bevölkerung nahm ihr diese Trennung nicht ab. Sicherheitskrise, Korruptionsskandale und das Scheitern des Verfassungsprozesses hatten das Vertrauen in die Politik und insbesondere in das progressive Lager nachhaltig erschüttert. Hinzu kommt ein Faktor, der nicht unterschätzt werden darf: Für Teile der chilenischen Gesellschaft war die Wahl einer Kommunistin zur Präsidentin prinzipiell nicht vorstellbar. Jaras Zusicherung, im Falle eines Wahlsiegs ihre Parteimitgliedschaft ruhen zu lassen, konnte diese tief sitzenden Vorbehalte letztlich nicht überwinden. Das Misstrauen saß tiefer als jede taktische Geste.
Ein Wahlkampf mit falschen Bildern und Zahlen
Der Wahlkampf kulminierte in den letzten Tagen in einer politischen Groteske. Aus Angst, Wähler*innen der Mitte und aus den Reihen der gemäßigten Rechten abzuschrecken, übernahm Jara in Teilen rechte Narrative. Kast hingegen wich programmatischen Konkretisierungen konsequent aus – ebenfalls aus Angst, sich angreifbar zu machen. Sein Erfolg beruht weniger auf einem überzeugenden Zukunftsprojekt als auf der systematischen Mobilisierung von Furcht: vor Kriminalität, vor Migration, vor einem ökonomischen Abstieg.
Diese Bedrohungsszenarien waren vielfach überzeichnet, teils mit falschen Zahlen und Bildern unterlegt. Doch in einer Gesellschaft, die sich zunehmend als verunsichert und verletzlich wahrnimmt, setzte sich die Realität nicht mehr gegen das Gefühl durch. Angst wurde zur politischen Währung, und Kast wurde ihr erfolgreichster Händler. Was Chile nun konkret erwartet, bleibt unklar. Kast kündigte „große Schritte“ an, präsentierte griffige Titel zur Bekämpfung von Kriminalität und von Migration sowie zur Verkleinerung des Staates – blieb jedoch Antworten schuldig, wie diese Politik umgesetzt werden solle. Selbst bei seiner Abschlusskundgebung begnügte er sich mit der kryptischen Ankündigung, man werde sich ab dem 11. März wundern.
In seiner Siegesrede schlug er dann versöhnlichere Töne an, sprach von fehlenden „magischen Lösungen“ und kündigte eine Regierung mit breiter parlamentarischer Unterstützung an. Zugleich versprach er seinem wirtschaftsliberalen Kernklientel schnelle Unternehmenssteuersenkungen und forderte die Chilen*innen dazu auf, die Ärmel hochzukrempeln und respektvoll miteinander umzugehen. Versöhnung also im Ton, Härte in der Agenda. Wie am Ende all dies zusammenpassen soll, ist offen.
Cäcilie
Schildberg
Mehr denn je braucht Chile eine geeinte, konstruktive Opposition, die ihre Rolle klar definiert, gemeinsame Leitlinien formuliert und verteidigt.
Kast verfügt über keine eigene Mehrheit im Kongress. Er ist auf die Unterstützung der konventionellen Rechten, der extremen Rechten um Johannes Kaiser und weiterer Abgeordneter angewiesen. Das zwingt ihn zu Verhandlungen – und eröffnet zugleich Spielräume für politische Radikalisierung. Sein Regierungsstil könnte sich zwischen verschiedenen autoritären Vorbildern bewegen: taktisch moderat wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, disruptiv wie Argentiniens Präsident Javier Milei oder repressiv wie Nayib Bukele aus El Salvador. Wahrscheinlicher ist eine opportunistische Mischung – angepasst an das, was der chilenische Kontext erlaubt und was die politische Lage erzwingt. Entscheidend wird dabei auch sein, wie stark und geschlossen die Opposition auftritt.
Gerade hier liegt die nächste große Unsicherheit. Kaum waren die Ergebnisse verkündet, begannen Schuldzuweisungen im progressiven Lager. Die Sozialist*innen machen die Regierung verantwortlich, in der Kommunistischen Partei steht die Führungsfrage offen, Jaras politische Zukunft ist ungewiss. Auch die Frage nach einer neuen Führungsfigur des gesamten Lagers – der scheidende Präsident Boric oder jemand anderes – ist ungelöst.
Diese Zerreißprobe kommt zur Unzeit. Denn mehr denn je braucht Chile eine geeinte, konstruktive Opposition, die ihre Rolle klar definiert, gemeinsame Leitlinien formuliert und verteidigt. Nicht destruktiv, sondern glaubwürdig. Die Lehre dieser Wahl ist eindeutig: Im Wettlauf um die „härtere“ Politik gewinnen immer die Originale – jene, die bereit sind, Menschenrechte und demokratische Prinzipien preiszugeben. Wer die Rhetorik der Rechten übernimmt, stärkt am Ende die Rechten. Eine progressive Alternative kann nicht darin bestehen, rechte Narrative zu kopieren. Sie muss anders ansetzen.
Ohne inhaltliche Erneuerung keine Rückkehr
Die Linke muss Sicherheit und Migration ernst nehmen, ohne sie zu entmenschlichen. Sie muss Ordnung und Freiheit zusammendenken. Vor allem aber muss sie der Angst etwas entgegensetzen: politische Klarheit, soziale Empathie und eine glaubhafte Hoffnung auf Veränderung. Dazu braucht es eine selbstkritische, aber solidarische Neuaufstellung der progressiven Kräfte – nicht in Form innerer Abrechnungen, sondern als gemeinsames politisches Projekt, das aus der Niederlage lernt und auf die realen aktuellen Herausforderungen zeitgemäße, glaubwürdige Antworten gibt. Denn klar ist: Ohne inhaltliche Erneuerung wird es keine politische Rückkehr geben. Und nur so lässt sich verhindern, dass der Sieg der Angst zum Dauerzustand wird.
Dieser Beitrag erschien zuerst im ipg-journal.
Cäcilie Schildberg ist Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile.