International

Verfassungsreferendum in Chile: „Einen dritten Versuch wird es nicht geben.“

Am Sonntag stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Ein erster Anlauf war im vergangenen Jahr gescheitert. Was sie von dem Referendum erwartet und welche Rolle die Medien spielen, sagt die chilenische Staatssekretärin Nicole Cardoch im Interview.

von Kai Doering · 15. Dezember 2023
Nicole Cardoch: Der Anteil der Menschen, die den Medien vertrauen, geht in Chile seit Jahren zurück.

Nicole Cardoch: Der Anteil der Menschen, die den Medien vertrauen, geht in Chile seit Jahren zurück.

Am 17. Dezember wird in Chile über eine neue Verfassung abgestimmt, nachdem das erste Referendum im vergangenen Jahr gescheitert ist. Wird die Abstimmung diesmal erfolgreich sein?

Die chilenische Regierung wird keinerlei Einfluss auf den Prozess der Willensbildung des Volkes nehmen und sich deshalb auch nicht inhaltlich positionieren. Das war auch schon beim gescheiterten Verfassungsreferendum im September 2022 so. Aber natürlich tragen wir Sorge dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger richtig informiert sind, was der Verfassungsentwurf beinhaltet und was ein Ja oder ein Nein bedeutet. Dafür haben wir eine landesweite Informationskampagne gestartet. Was die Inhalte angeht, gab es einen langen Diskussionsprozess mit Expertinnen und Experten, die den Verfassungsentwurf geschrieben haben. Der finale Entwurf wurde schließlich von einem Verfassungsrat mit gewählten Vertreterinnen und Vertretern fertig geschrieben und am 31. Oktober beschlossen. Leider ist es uns nicht gelungen, in der wichtigen Frage des Verfassungsentwurfs einen Konsens aller Parteien und gesellschaftlichen Kräfte zu erreichen. Nun hat das chilenische Volk das letzte Wort. Fest steht, dass es keinen dritten Versuch für eine neue Verfassung geben wird, egal, wie die Abstimmung jetzt ausgeht.

Beim ersten Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr wurde über sehr viel Desinformation im Vorfeld der Abstimmung geklagt. Ist die Informationskampagne der Regierung eine Antwort darauf?

Die Regierung hat immer die Aufgabe, die Bevölkerung zu informieren. Deshalb gab es auch vor dem letzten Verfassungsreferendum bereits eine Kampagne. Wir haben beispielsweise mehr als eine Million gedruckte Exemplare des Verfassungsentwurfs verteilt, damit sich die Menschen ein Bild machen können. Hinzu kamen zahlreiche Downloads der digitalen Version. Im vergangenen Jahr hat die Kampagne drei Monate gedauert, diesmal war sie etwas kürzer. Ein Fokus lag dabei auf der – noch recht neuen – Wahlpflicht. Da alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger auf über neue Verfassung abstimmen müssen, müssen sie auch wissen, welche Strafen ihnen drohen, wenn sie das nicht machen. 

Im deutschen Grundgesetz ist die Pressefreiheit ein wichtiges Grundrecht. Ist sie im Entwurf der neuen chilenischen Verfassung auch vorgesehen?

Nicht im Detail, nein. Es soll aber das Recht verankert werden, dass Menschen Medien gründen dürfen. Es soll zudem kein staatliches Monopol über die Medien geben. Pressefreiheit ist in der chilenischen Demokratie sehr präsent. Das ist auch eine Erfahrung der Pinochet-Diktatur, in der eine offizielle Wahrheit durchgesetzt wurde. Das Militär hatte die Medien unter strenger Kontrolle. Deshalb spielt die freie Presse heute im freien Chile für uns eine zentrale Rolle. Sehr wichtig sind hierbei zum Beispiel auch die Universitäten, die meist eigene Medien haben.

Nicole Cardoch

Gerade wenn wir über Desinformation sprechen, ist Medienkompetenz ein wichtiges Thema.

Trotzdem ist das Vertrauen in die Medien in Chile nicht sehr groß. Woran liegt das?

Der Anteil der Menschen, die den Medien vertrauen, geht in Chile seit Jahren zurück. Das trifft auf den weltweiten Trend einer zunehmenden Medienskepsis. Chile ist da nicht anders als der Rest der Welt.

Wie reagieren Sie als Regierung darauf?

Indem wir einen Schwerpunkt auf die regionale und lokale Berichterstattung setzen. Lokale Medien sind häufig für die Menschen viel wichtiger als die landesweiten, hinter denen große Konzerne stecken. Die regionalen und lokalen Medien geben den Menschen vor Ort eine Stimme und ein Zugehörigkeitsgefühl. Deshalb versuchen wir sie als Regierung zu fördern, auch finanziell.

Bei einer Reise durch Deutschland haben Sie sich gerade über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk informiert. Könnte das ein Modell für Chile sein?

Ich habe im November sehr viel über das öffentlich-rechtliche System in Deutschland gelernt und bin beeindruckt. Präsident Gabriel Boric hat bereits angekündigt, über ein neues Medien-System für Chile nachdenken zu wollen. Ich denke, da werden diese Eindrücke helfen. Am wichtigsten ist uns dabei, die Meinungs- und Informationsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger in Chile sicherzustellen. Dafür brauchen wir eine Medienlandschaft, die vielfältig ist und unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lässt. Das ist ganz entscheidend für die demokratische Debatte. Ein öffentlich-rechtliches System kann eine Möglichkeit sein. Das kann die Regierung aber nicht allein entscheiden.

Welche Rolle spielt die Erlangung von Medienkompetenz in der Schule?

Das ist ein sehr wichtiges Thema, das wir als Regierung offensiv angehen. Gerade wenn wir über Desinformation sprechen, ist Medienkompetenz ein wichtiges Thema. Wir haben deshalb mithilfe von Expertinnen und Experten bereits Bevölkerungsgruppen identifiziert, die besonders anfällig sind für Desinformation. Es sind vor allem Kinder, Jugendliche und Frauen. Über das Bildungsministerium bieten wir deshalb Workshops an, die Medienkompetenz vermitteln. Eltern lernen hier beispielsweise, wie digitale Plattformen funktionieren, damit sie verstehen, was ihre Kinder dort machen, und ihnen helfen können, Fakten von Meinungen zu trennen.

Nicole Cardoch ist Journalistin und seit März 2023 Staatssekretärin im Ministerium des Staatssekretariats der chilenischen Regierung, das für Kommunikation und soziale Teilhabe zuständig ist.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

Weitere interessante Rubriken entdecken

0 Kommentare
Noch keine Kommentare