SPD-Fraktionsvize: „Kein grundsätzlicher Reformbedarf beim Bürgergeld“
Bundeskanzler Friedrich Merz will beim Bürgergeld mindestens fünf Milliarden Euro im Jahr einsparen. Die Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt, hält das für illusorisch. Reformbedarf sieht sie ohnehin in anderen Bereichen.
IMAGO/Bihlmayerfotografie
Einen Abbau des Sozialstaats wird es mit der SPD nicht geben, sagt Fraktionsvize Dagmar Schmidt.
In den vergangenen Tagen wurde in der Koalition heftig über mögliche Reformen des Sozialstaats diskutiert. Ist diese Debatte mit dem Koalitionsausschuss vom Mittwochabend beendet?
Nein, denn es sind ja immer noch zahlreiche Fragen offen. Auch die Grundfrage, wie wir unseren Staat handlungsfähig halten in Zeiten, in denen kein Wirtschaftswachstum die Kassen füllt, die ist noch nicht beantwortet. Die Union stellt zwar viele Zahlen in den Raum, hat aber bisher keine konkreten Vorschläge gemacht, was sie verändern möchte – außer, dass sie mehr und härtere Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger fordert. Allein den Druck zu erhöhen, dass die Menschen unter allen Umständen eine Arbeit annehmen, senkt aber keine Kosten, im Gegenteil.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Menschen in Arbeit gedrängt werden, wird es wieder zu Drehtüreffekten kommen, wie wir sie bereits von Hartz IV kennen. Da standen die Menschen oft ein halbes Jahr später wieder vor der Tür des Jobcenters. Das spart dem Staat kein Geld, sondern verursacht dann weitere Kosten. Die Idee des Bürgergeldes war deshalb ja, die Menschen über Weiterbildungen und persönliche Beratung nachhaltig zu befähigen, ihren eigenen Unterhalt, ihr eigenes Einkommen zu sichern.
Dagmar
Schmidt
Statt ständig starke Sprüche in Talkshows zu machen, sollte die Union endlich in einen Arbeitsmodus kommen.
Bundeskanzler Friedrich Merz will dennoch zehn Prozent oder fünf Milliarden Euro jährlich beim Bürgergeld einsparen. Halten Sie das für realistisch?
Nein, überhaupt nicht. Statt ständig starke Sprüche in Talkshows zu machen, sollte die Union endlich in einen Arbeitsmodus kommen. Sie muss mal konkret sagen, welche Leistungen man aus ihrer Sicht nicht braucht und was sie nicht mehr finanzieren möchte. Man kann die Höhe des Bürgergeldes ja aus gutem Grund nicht nach Belieben senken. Dem sind enge verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Auch über Sanktionen Geld zu sparen, wird nicht funktionieren, da die Zahl derjenigen, die davon betroffen sind, sehr gering ist. Und mehr Druck auszuüben, führt wie gesagt nur zu einem Drehtüreffekt, der teuer ist. Schaffen wir es hingegen, Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen, ist der Einspareffekt deutlich größer. Wenn nur zehn Prozent derjenigen, die eine Arbeit aufgenommen haben, nicht wieder ins Bürgergeld-System zurückkehren, spart das 500 Millionen Euro im Jahr.
Das Bürgergeld kostet also kein Geld, sondern spart es?
Mittelfristig schon. Mit dem Bürgergeld haben wir ja die Lehren aus den Fehlern des Hartz-IV-Systems gezogen. Deshalb war es der SPD auch wichtig, den Kern des Bürgergelds – Geld in die Befähigung von Arbeitslosen zu investieren, um sie dauerhaft in Arbeit zu bringen – im Koalitionsvertrag zu erhalten. Das kostet zwar erstmal Geld, wird aber am Ende günstiger.
Dass es Reformen braucht, stellt aber auch die SPD nicht infrage. Wo sehen Sie Veränderungsbedarf?
Reformen des Sozialstaats sind sicher nötig, aber beim Bürgergeld sehe ich keinen grundsätzlichen Reformbedarf. Man hat dem Bürgergeld ja noch gar keine richtige Chance gegeben. Zwar ist das Gesetz zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten, aber bis es in den Jobcentern umgesetzt wird und Wirkung zeigt, dauert es. Deshalb fände ich es wichtig, das Bürgergeld erstmal vernünftig zu evaluieren, ehe wir Veränderungen vornehmen. Leider finden die Diskussionen aber nicht in einem rationalen Diskurs statt. Stattdessen ist es zu einem Thema aufgebaut worden, bei dem die, die arbeiten gegen die ausgespielt werden, die nicht arbeiten, obwohl wir gerade für kleine Arbeitseinkommen mit Mindestlohn, Kinderzuschlag und Wohngeld besonders viel gemacht haben. So entsteht auch die Annahme, dass große Einspareffekte möglich sind. Diese Hoffnung wird aber enttäuscht werden. Reformbedarf hat unser Sozialstaat an ganz anderer Stelle.
An welcher?
Wir geben sehr viel Geld im Sozialstaat aus, das ist richtig. Und trotzdem haben die Menschen oft das Gefühl, dass vieles nicht funktioniert. Wir müssen da ansetzen, wenn die Menschen keinen Arzttermin bekommen, wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht gelingt oder wenn man einen Pflegefall in der Familie hat. Wenn die Menschen das Gefühl haben, mit ihren Problemen alleingelassen zu werden und nur von A nach B geschickt werden, weil sich niemand zuständig fühlt, dann läuft etwas verkehrt.
Dagmar
Schmidt
Man schafft keine grundsätzlichen Reformen im Sozialsystem, indem man den Menschen Angst macht und Sozialabbau betreibt.
Wie lässt sich das ändern?
Der Sozialstaat muss wieder näher an die Menschen rücken, damit sie sehen, dass Unterstützung da ist, wenn sie gebraucht wird. Als SPD haben wir deshalb die Idee eines Bürgerservice entwickelt, einer Anlaufstelle im Sozialstaat für alle Fragen – online, analog und aufsuchend. Darüber wollen wir jetzt in der Sozialstaatskommission reden, die gerade ihre Arbeit begonnen hat. Dabei ziehen wir übrigens an einem Strang mit der Union. Hier halte ich es auch für möglich, effizienter zu werden und so auch Ressourcen freizusetzen, also Geld einzusparen, ohne dass Leistungen gekürzt werden. Man schafft keine grundsätzlichen Reformen im Sozialsystem, indem man den Menschen Angst macht und Sozialabbau betreibt.
Spätestens 2027 dürften dennoch große Lücken im Haushalt klaffen. Beginnen die Diskussionen über Kürzungen im Sozialbereich dann erneut?
Ich finde es sehr irritierend, dass ausgerechnet der Kanzler derjenige ist, der von sich aus ständig einen Spalt in die Koalition treibt, statt die Dinge zusammenzuführen. Vielleicht braucht er das, um in der eigenen Partei zu punkten, aber dieses Dauerfeuer auf den Sozialstaat stärkt nicht gerade das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürgern, sondern schafft Unsicherheit. Ich hoffe, dass er hier noch zur Einsicht kommt. Für die SPD ist klar, dass ein Abbau des Sozialstaats mit uns nicht zu machen ist.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.
vom Bürgergeld. Das ist die Errungenschaft der letzten Dekade