Studie zum Bürgergeld: Warum schärfere Sanktionen keine Lösung sind
In der Debatte ums Bürgergeld drehte sich zuletzt alles um sogenannte Totalverweigerer*innen, die angeblich nicht arbeiten wollen. Für eine neue Studie wurden Betroffene befragt. Sie zeigt: Die Realität sieht anders aus.
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Viele Bürgergeld-Empfänger*innen sind auf Essensausgaben der Tafel angewiesen - wie hier in Frankfurt.
Nur zwei Jahre nach seiner Einführung will Schwarz-Rot das Bürgergeld in eine „Neue Grundsicherung“ umwandeln. Die Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) will Leistungsempfänger*innen wieder vorrangig in Arbeit statt in Weiterbildung vermitteln. Auch von schnelleren und verschärften Sanktionen ist die Rede bis zu einem „vollständigen Leistungsentzug“ bei sogenannten Totalverweigerer*innen, die Angebote wiederholt ablehnen.
Letzteres ist umstritten. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) betonte im Deutschlandfunk, Sanktionen würden kaum zu Einsparungen führen. „Die sogenannten Totalverweigerer sind eine geringe Anzahl“, sagte sie.
Die Bundesregierung plant Änderungen, ohne das Bürgergeld umfassend wissenschaftlich zu evaluieren, kritisiert der Verein Sanktionsfrei. Vor allem Betroffene kämen in der Debatte nie zu Wort – derzeit beziehen 5,5 Millionen Menschen in Deutschland Bürgergeld. Der Verein hat am Montag gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine eigene Studie vorgestellt, die die Erfahrungen von 1.014 Empfänger*innen erfragt hat.
Drei Viertel leben an der Armutsgrenze
„Das Bürgergeld ist nicht nur ein ökonomisches, sondern ein emotionales Desaster“, resümierte die Vorsitzende Helena Steinhaus vor der Hauptstadtpresse in Berlin. „Die Ergebnisse zeichnen ein drastisches Bild von Verzicht.“ Demnach führt die politische Debatte über Sanktionen zu einem verzerrten Bild, weil der Großteil der Befragten bereits jetzt an der Armutsgrenze lebe.
Drei Viertel gaben an, der Regelsatz von 563 Euro für Alleinstehende reiche nicht für ein „würdevolles Leben“. Mehr als die Hälfte der Bürgergeld beziehenden Eltern verzichten demnach auf Essen, um ihre Kinder zu ernähren. „Ein Sozialstaat, der Eltern dazu zwingt, ist kein Schutzraum“, sagte Steinhaus.
Die Studie zeigt auch, dass es verfehlt ist, zu behaupten, viele Beziehende weigerten sich zu arbeiten. Drei Viertel der Befragten äußerten hingegen den Wunsch, vom Bürgergeld unabhängig zu werden. Aber nur ein Viertel von ihnen zeigte sich zuversichtlich, eine Stelle zu finden, mit der sie nicht mehr auf Bürgergeld angewiesen sind. Mehr als die Hälfte der Befragten ist nicht mehr zuversichtlich, das Bürgergeld über eine Stelle verlassen zu können.
Jobcenter nur bedingt hilfreich
Bei der Stellensuche scheinen Jobcenter nur bedingt hilfreich zu sein, erklärte Steinhaus. Viele Empfänger*innen wünschten sich mehr Hilfe. „Diese Missstände sind kein Verschulden der Betroffenen, sondern Ausdruck eines fundamentalen Systemfehlers.“
Die Studie untersuchte auch den Leidensdruck unter den Betroffenen. 42 Prozent gaben an, sich für das Bürgergeld zu schämen, 72 Prozent äußerten große Angst vor Verschärfungen, wie sie derzeit in der Politik diskutiert würden. Nur jede und jeder Zehnte der Bürgergeld-Empfänger*innen würde sich als Teil der Gesellschaft fühlen. „Angst macht mürbe, Scham macht krank“, betonte Steinhaus. Die psychischen Auswirkungen von Bürgergeld seien ein Zeichen dafür, dass eine Debatte um Sanktionen in die falsche Richtung gehe.
Drastische Schilderungen eines Betroffenen
Thomas Wasilewski, der mit seiner Familie Bürgergeld bezieht, schilderte die Probleme aus der Sicht eines Betroffenen. „Meine Probleme werden in der Studie theoretisch dargestellt, für mich gehört der Verzicht zum Alltag“, sagte er. „Diese Stimme im Kopf ist immer präsent: Wie soll es morgen weitergehen? Das zerfrisst die Seele. Es ist unerträglich zu erleben, wie meine Söhne leiden, weil ihnen das Allernötigste fehlt.”
Wasilewski engagiert sich als Ehrenamtlicher bei der Tafel in Mönchengladbach. Viele Bürgergeld-Empfänger*innen würden schon Stunden vor Öffnung der Tafel anstehen, um Essen zu bekommen. „Ihre Armut ist unbestreitbar“, sagte Wasilewski. Am härtesten treffe es Menschen, die körperlich eingeschränkt seien oder „geistig nicht die Fittesten“. „Sie werden in dieser Gesellschaft weggewischt wie Dreck.“
Wasilewski betonte, zu glauben, man könne diese Menschen mit Druck in eine Arbeit bringen, sei Illusion. Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sieht die Politik auf einem Irrweg. Leistungskürzungen seien kontraproduktiv, sagte er. „Nicht nur für die betroffenen Menschen, sondern auch für Unternehmen, Gesellschaft und Sozialstaat, da sie die Arbeitsaufnahme erschweren und nicht verbessern würden.“
Bedarf in den Fokus nehmen
Statt schärfere Sanktionen zu verteilen und Beziehende schnellstmöglich in Arbeit zu bringen, fordert der Verein Sanktionsfrei, einen bedarfsdeckenden Regelsatz von 813 Euro im Monat, der die Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. Anstelle den Fokus auf angeblich mangelnde Arbeitsbereitschaft zu richten, müsse die Frage gestellt werden, ob es überhaupt ausreichend Stellen gibt, um Empfänger*innen von Bürgergeld eine Rückkehr ins Erwerbsleben zu ermöglichen.