Warum Platzeck irrt: über Russland und über Brandts Ostpolitik
Ute Grabowsky/photothek.net
Matthias Platzeck hat vollkommen Recht, wenn er im Vorwärts schreibt, dass die Ostpolitik Willy Brandts gerade heute Vorbild im Verhältnis zwischen Russland und Deutschland sein müsse. Sein Gedanke ist zwar richtig, aber er übersieht zentrale Prämissen Brandts.
Brandts Ostpolitik: Dialog und Verteidigungsfähigkeit
Dessen Ostpolitik konnte nur funktionieren, weil sie sich nicht in Appeasement erschöpfte, sondern Dialogbereitschaft mit Verteidigungsfähigkeit verknüpfte. Das gerade letzteres auch heute unabdingbar nötig ist, zeigt die russische Politik der letzten Jahre. Der Kreml verstößt auf eklatante Weise gegen die zentrale Verpflichtung der Ostverträge: gegenseitiger Gewaltverzicht und Achtung der Grenzen. Als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums sollte er seinen Appell deshalb an den Kreml richten.
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist der historisch schwerste Bruch mit der größten Errungenschaft der Ostpolitik: der KSZE-Schlussakte von Helsinki. Zu deren Grundprinzipien gehören die Achtung der souveränen Gleichheit sowie der ihrer Souveränität innewohnenden Rechte, zum Verzicht von Gewalt, die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Achtung der territorialen Integrität und die friedlichen Regelung von Streitfällen, die die Integrität der Grenzen und deren ausschließlich friedliche Änderungen festschreibt. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim macht auch das bahnbrechende Budapester Memorandum der KSZE-Konferenz von 1994 obsolet. Darin wurden der Ukraine die Souveränität und die bestehenden Grenzen als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht garantiert. Ein Meilenstein auf dem Weg zu weniger Atomwaffen wurde so nieder gerissen.
Moskaus Legende über die Nato-Osterweiterung
Eine von russischer Seite verbreitete Legende besagt, dass der Westen sein damals gegebenes Versprechen gebrochen hätte, die Mittel- und Osteuropäischen Staaten nicht in die NATO aufzunehmen. Eine solche Vereinbarung gab es jedoch nie – und sie wäre auch kaum mit dem Selbstbestimmungsrecht der jungen Demokratien zu vereinbaren.
Zur Erinnerung: Schon 2014 hatte Matthias Platzeck die nachträgliche Legalisierung von Russlands Inbesitznahme der ukrainischen Krim gefordert, und löste damit in weiten Teilen der Sozialdemokratie ungläubiges Kopfschütteln aus.
Platzeck schweigt zur Ukraine, zu Teschetschenien, zu Syrien
Und: Die regelbasierte Verständigung in der Ostpolitik ist auch heute noch ein guter Kompass, aber sie sollte nicht verklärt werden. Wohl aus gutem Grunde erwähnt Platzeck nur die „Ostpolitik der sechziger und siebziger Jahre“ und verschweigt die schweren Versäumnisse der achtziger Jahre, die von der Ausgrenzung von Solidarność bis hin zum SED-SPD-Papier reichen – alles unter Berufung auf die Ostpolitik.
Es ist schwer nachzuvollziehen, wie Matthias Platzeck ausführlich über eine europäische Sicherheitsordnung schreiben und mit keiner Zeile den in der Ostukraine tobenden Krieg mit über 10.000 Toten erwähnen kann. Ganz abgesehen von Putins Fortsetzung der Mittel des Tschetschenienkriegs in Europas Nachbarschaft: Auch die russischen Luftangriffe auf Wohnviertel und Krankenhäuser in Aleppo, die Frankreich und andere europäische Staaten als Kriegsverbrechen bezeichnet haben, zeigen, wie unterschiedlich die Vorstellungen einer Sicherheitsordnung zwischen Russland und Europa sind.
Vergleich zwischen Nato und Hitler ist perfide
Schwer nachvollziehbar ist, dass Matthias Platzeck die gemäßigte Rede Putins von 2001 im Bundestag als „ausgestreckte Hand“ zitiert und dabei die längst vollzogene Kehrtwende unter den Tisch fallen lässt. Spätestens Putins berüchtigte Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007, in der er der Europäischen Union vorwarf, sie würde anderen Ländern ihren Willen aufzwingen und auf Gewalt setzen, gilt als Zäsur. Sein Reden und Handeln sind längst deutlich ins Aggressive abgedriftet. Die Bundestagsrede von 2001 ist leider nur noch eine historische Randnotiz.
Gänzlich in falsches Fahrtwasser gerät Platzeck bei dem Satz: „75 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion werden deutsche Soldaten nach Litauen an die russische Grenze entsandt.“ Das ist so sachlich richtig – in seiner kaum zufällig mitschwingenden Andeutung aber ein Schlag ins Gesicht der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten, die – gemeinsam mit anderen Nato-Partnern – zum EU-Partner Litauen – entsandt werden. Dies geschieht auf ausdrücklichen Wunsch Litauens – und macht die immanente Gleichsetzung dieser Truppenverlegung mit Hitlers barbarischem Vernichtungskrieg schlicht perfide.
Putin schickt 30.000 Soldaten, die Nato 4.000
Zudem ist der Auslöser der „militärischen Muskelspiele“, wie Platzeck es nennt, offenkundig. Putin verlegt drei Divisionen (also über 30.000 Soldaten) an die Westgrenze seines mit Nuklearwaffen hochgerüsteten Reiches. Die NATO reagiert mit der Verlegung von vier Bataillonen (also etwa 4.000 Soldaten) in die baltischen Kleinstaaten. Von Symmetrie, die Platzeck suggeriert, kann da wahrlich nicht die Rede sein.
Bei allem Respekt vor Matthias Platzecks Lebensleistung für die Sozialdemokratie: Seine Ausführungen sind im Ergebnis die Verteidigung einer aggressiven Politik, die nie und nimmer in Einklang mit den Werten Willy Brandts steht.
ist Redenschreiber im Auswärtigen Amt. Zuvor war er Referent der SPD-Bundestagsfraktion in deren Verbindungsbüro zur EU in Brüssel.