Wie Berlins neue Türkei-Politik Erdoğan teuer zu stehen kommt
Als Bundesaußenminister Sigmar Gabriel das Pressefoyer des Auswärtigen Amtes betritt, kann man für einen kurzen Augenblick eine Stecknadel fallen hören. Der Minister hatte extra seinen Urlaub unterbrochen, um eine wichtige Mitteilung „zur Lage in der Türkei“ zu machen. Um 10 Uhr will er sprechen, doch der Termin wird auf 10.30 Uhr verschoben, dann noch einmal auf 11 Uhr. Entsprechend groß ist die Spannung.
Martin Schulz bei Gabriel im Auswärtigen Amt
Ein erster Höhepunkt: Völlig überraschend betritt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz das Pressefoyer, auf seinem Weg zum Außenminister. Beide besprechen den neuen deutschen Kurs gegenüber Ankara. Gabriel verabschiedet anschließend den SPD-Vorsitzenden – erneut im Pressefoyer – und beginnt. Zunächst mit einem Rückblick auf die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate in den deutsch-türkischen Beziehungen.
Dann, nach rund zehn Minuten, lässt Gabriel die Katze aus dem Sack: „Wir können nicht so weiter machen wie bisher. Wir müssen klarer als bisher sein, damit die Verantwortlichen in Ankara begreifen, dass eine solche Politik nicht folgenlos ist.“ Der Außenminister kündigt eine „Neuausrichtung unserer Türkei-Politik“ an. Und die hat es in sich.
Gabriel: „Man kann niemandem zu Investitionen raten“
„Man kann niemandem zu Investitionen in ein Land raten, wenn es dort keine Rechtssicherheit mehr gibt, und sogar völlig unbescholtene Unternehmen in die Nähe von Terroristen gerückt werden, und letztlich es bereits Beispiele von Enteignungen gibt“, so Gabriel. „Ich sehe deshalb nicht, wie wir als Bundesregierung weiter deutsche Unternehmensinvestitionen in der Türkei garantieren können.“ Das betreffe die Hermes-Bürgschaften der Regierung, Investitionskredite und Wirtschaftshilfen.
Darüber hinaus gelte dies auch für die „Vorbereitungshilfen“ aus Brüssel für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Darüber werde Berlin in den nächsten Tagen und Wochen mit den europäischen Partnern sprechen, kündigt Gabriel an.
Schulz telefoniert mit türkischem Oppositionsführer
Nachdem sich SPD-Chef Martin Schulz im Vorfeld skeptisch über die von Ankara mit großem Nachdruck angestrebte Zollunion mit der EU geäußert hatte, pflichtet Gabriel dem SPD-Chef bei: „Ich muss offen sagen, dass auch ich mir nicht vorstellen kann, dass es Verhandlungen über die Ausweitung der Zollunion gibt, wenn Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Europäischen Union zeitgleich ohne Grund in der Türkei in Haft genommen werden.“ Darin stimme er mit dem SPD-Vorsitzenden „also ausdrücklich zu“.
Martin Schulz telefonierte heute mit dem Vorsitzenden der türkischen SPD-Schwesterpartei CHP Kemal Kılıçdaroğlu. „Wir kennen uns sehr gut und lange, auch deshalb war es ein sehr freundschaftliches Gespräch“, so Schulz anschließend. „Die Maßnahmen, die Sigmar Gabriel eben im Auswärtigen Amt vorgestellt hat, richten sich gegen die Politik von Präsident Erdoğan - nicht gegen das türkische Volk oder in Deutschland lebende Menschen mit türkischen Wurzeln“, stellt Schulz klar. „Wir stehen fest an der Seite derer, die sich unermüdlich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei einsetzen.“ Das habe er sehr deutlich gemacht und das werde auch Kemal Kılıçdaroğlu so gesehen. „Er wird bald auf Einladung der SPD nach Berlin kommen. Ich freue mich auf die Begegnung!“, so Schulz.
Für den SPD-Chef ist klar: Auf die Verhaftungen von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten müsse es eine klare Antwort der Bundesregierung geben. „Ich bin Sigmar Gabriel sehr dankbar für die klaren Worte.“
Gabriel: Wir müssen Reisehinweise verschärfen
Für Außenminister Gabriel zeigt der Fall des in Istanbul verhafteten Deutschen Peter Steudtner, „dass deutsche Staatsbürger in der Türkei vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher sind“. Daraus folgt für den Außenminister „Wir können daher gar nicht anders, als unsere Reise- und Sicherheitshinweise in die Türkei anzupassen und die Deutschen wissen zu lassen, was ihnen geschehen kann, wenn sie in die Türkei reisen.“
So sind die Reisehinweise für die Türkei inzwischen von einzelnen Personengruppen auf alle Deutschen ausgeweitet worden. Nun heißt es auf der homepage des Auswärtigen Amtes: „Personen, die aus privaten oder geschäftlichen Gründen in die Türkei reisen, wird zu erhöhter Vorsicht geraten.“ Türkeireisenden wird darüber hinaus empfohlen, sich bei der Botschaft oder den Konsulaten der Bundesrepublik registrieren zu lassen.
Bundesregierung behält sich weitere Maßnahmen vor
Gabriel kündigt ausdrücklich an, innerhalb der Bundesregierung auch „über weitere Maßnahmen als die eben genannten“ zu sprechen. Damit behält sich Berlin ausdrücklich eine weitere Eskalation vor, sollte Ankara nicht einlenken.
Ob dies nötig ist, wird sich bald zeigen. In Ankara werden die Ankündigungen und Forderungen aus Berlin bereits als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei bezeichnet. Gabriel weist dies zurück. Wenn deutsche Staatsbürger betroffen seien, könne es sich nicht um eine innere Angelegenheit der Türkei handeln.
Über die Wirtschaft wird Erdoğan getroffen
Gabriels konkrete Ankündigungen dürften einen nachhaltigen Effekt auf die türkische Wirtschaft und den Tourismus haben. Sie werden beiden schaden. Wie stark, ist noch nicht abzusehen. Aber ausdrückliche Warnhinweise der Bundesregierung an potentielle Investoren und Touristen werden ihre Wirkung sicher nicht verfehlen.
Ob und welche Wirkung sie auf Präsident Erdoğan haben ist ungewiss. Beobachter in Ankara verweisen darauf, dass die Wahlerfolge der regierenden AKP zu einem bedeutenden Teil auf die wirtschaftlichen Erfolg zurückgehen, die die Türkei in den letzten Jahren hatte. Doch spätestens seit dem letzten Jahr ist es damit vorbei: Die Inflation galloppiert, die Wirtschaft bricht ein – auch der für das Land so wichtige Tourismus.
Berlin verschärft türkische Wirtschaftsprobleme
Sollte diese Entwicklung durch die nun von Sigmar Gabriel angekündigte Korrektur der deutschen Türkei-Politik weiter beschleunigt werden, könnte das Erdoğan und seine AKP teuer zu stehen kommen. Die jüngsten Massendemonstrationen der Opposition quer durch das Land waren bereits ein erster Hinweis, dass sich die Zeiten für Erdoğan schneller ändern könnten, als er es noch vor kurzem für möglich hielt.