Urabstimmung über den Parteivorsitz: Was die SPD von Labour lernen kann
Viele deutsche Sozialdemokraten blicken zurzeit etwas sehnsüchtig nach Großbritannien, wo die Labour-Party bei der letzten Unterhauswahl 40 Prozent der Stimmen geholt hat. Was ist das Geheimnis des Erfolgs?
Zum neuen Erfolg von Labour gehört zunächst eine lange Leidensgeschichte. Seit 1997 ging es mit der Partei abwärts. Der Tiefpunkt war die Unterhauswahl 2010. Labour war zu diesem Zeitpunkt für viele Menschen unwählbar. Das lag vor allem daran, dass sie das Gefühl hatten, Labour ist nicht mehr ihre Stimme, vertritt nicht mehr ihre Anliegen. Nach der verheerenden Wahlniederlage 2015 trat Jeremy Corbyn an und hat den Menschen Hoffnung gegeben – indem er über die Themen gesprochen hat, die sie wirklich bewegen. Er hat ihnen Mut gemacht hat, dass nichts voherrbestimmt ist, sondern sie etwas verändern können, wenn sie sich engagieren. Corbyns Slogan bei der ersten Urwahl für den Parteivorsitz war deshalb auch „Eine andere Welt ist möglich“. Diese Hoffnung hat tatsächlich Millionen mobilisiert.
Jeremy Corbyn galt bei der Urwahl des Parteivorsitzes 2015 als aussichtsloser Kandidat, gewann aber am Ende deutlich gegen seine drei Mitbewerber. Warum?
Das gesellschaftliche und auch das Labour-Establishment wollten Corbyn nicht und haben versucht, ihn zu verhindern. Bei seinen Gegenkandidaten hatte man das Gefühl, sie sind doch alle gleich. Alle drei haben dieselben weichgespülten Floskeln verwendet und waren nicht authentisch. Jeremy Corbyn war das genaue Gegenteil. Er verkörperte die radikale Wende weg vom bisherigen Labour-Kurs unter Tony Blair und seinen Nachfolgern. Jeremy Corbyn gab den Parteimitgliedern das Gefühl, wirklich wichtig zu sein und etwas verändern zu können. Deshalb hat er die Urwahl so klar gewonnen.
Warum verkörpert gerade ein damals 66-jähriger ehemaliger Gewerschafts-Funktionär diesen Neuanfang?
Weil er glaubwürdig und authentisch ist. Jeremy Corbyn vertritt seit Jahrzehnten dieselben Positionen und sagt nichts, nur um anderen zu gefallen. Er hat eine klare Vision für eine bessere Gesellschaft und die Menschen spüren, dass er es ernst meint und sie umsetzt, wenn er die Möglichkeit dazu hat. In einer Welt, in der meistens nur der Kompromiss zählt, ist er ein wohltuender Contra-Punkt. Bei Jeremy Corbyn bekommen die Menschen, was auf dem Etikett steht.
Was Sie erzählen, erinnert sehr an den „Schulz-Effekt“ in Deuschland im Frühjahr dieses Jahres. Warum hat der – anders als bei Jeremy Corbyn – nicht angehalten?
Als sich Martin Schulz im Frühjahr von der Agenda 2010 distanziert hat, gingen seine Umfragewerte deutlich nach oben. Auch ich bin zu diesem Zeitpunkt in die SPD eingetreten. Ein paar Monate später bin ich zum Parteitag nach Dortmund gefahren – und dort sprach Gerhard Schröder. Das wirkte auf mich und auch auf viele andere nicht sehr glaubwürdig und ist aus meiner Sicht der Hauptgrund dafür, dass der Schulz-Effekt nicht von Dauer gewesen ist. Die Hoffnung auf einen wirklich Neuanfang wurde bei vielen enttäuscht.
Nun hat Martin Schulz angeregt, den Parteivorsitz – im Rahmen des deutschen Parteiengesetzes – künftig per Urwahl bestimmen zu lassen. Würden Sie dazu raten?
Ja, unbedingt! Für den neuen Aufstieg von Labour war die Einführung der Urwahl für den Parteivorsitz ganz entscheidend. Vor 2015 hatte es das nicht gegeben. Seitdem gilt der Grundsatz „Ein Mitglied, eine Stimme“. Die Mitglieder entscheiden über die Parteiführung und nicht ein Parteitag. Menschen gehen schließlich in eine Partei, um mitentscheiden zu können. Labour konnte seine Mitgliedschaft damit innnerhalb von zwei Jahren von 190.000 auf 600.000 verdreifachen. Wir wählen nicht nur den Vorsitzenden, sondern auch seine Stellvertreter, viele Parteivorstandsmitglieder und die Antragskommission. Damit wird deutlich: Die Partei ist die Basis. Und je mehr man die Basis entscheiden lässt, desto stärker ist man auch mit der Gesellschaft verbunden. Bei Labour bedeutet das auch, dass die Parteitagsdelegierten normale Parteimitglieder sind und keine Funktionäre oder gar Mitarbeiter der Partei. Wenn man wissen will, was die echten Probleme von echten Menschen sind, braucht man nämlich auch echte Menschen auf einem Parteitag.
Jeremy Corbyn ist nicht unumstritten. Manch einer sagt, er sei ein Antisemit. Was ist da dran?
Diese Vorwürfe sind totaler Quatsch! Wenn das so wäre, würde ich Labour sofort verlassen. Jeremy Corbyn und Labour lehnen Antisemitismus und jegliche Form von Hass und Diskriminierung entschieden ab. Die Kernbotschaft von Labour ist Solidarität: egal welche Religion, Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Herkunft - wir stehen zusammen. Die Million, die sich für Labour nun begeistern, tun es aus Idealismus - nicht aus Fremdenhass.
Ursprung der Vorwürfe ist vielleicht Corbyns Haltung zur Palästina-Frage. Er war u.a. Vorsitzender der „Palestine Solidarity Campaign“ und hat sich immer für Frieden und Gerechtigkeit im Nahost eingesetzt. Vor einigen Jahren hat er eine Sitzung dazu mit den Worten eröffnet, er begrüße auch „unsere Freunde von der Hisbollah und der Hamas“. Das als freundliche Floskel gemeint, ist aber von vielen komplett aus dem Zusammenhang gerissen und schließlich so verdreht worden, Corbyn sei ein Freund der Hamas. Wer sein politisches Leben etwas verfolgt hat weiß, dass sich Corbyn stets gegen jeglichen Vorurteil gestellt hat. Dass Corbyn sich hinterher für seine Wortwahl ausdrücklich entschuldigt hat und schärfere Regel gegen Antisemitismus innerhalb von Labour eingeführt hat, wird von seinen Gegner leider gerne übersehen. Das Recht auf eine Stellungnahme ist ein Grundprinzip der fairen Berichterstattung. Wer sowas liest, soll sich fragen, ob dieses Recht gewährleistet worden ist.
Die Jusos aus Frankfurt und andere in der SPD fordern, dass Corbyn zum Parteitag im Dezember eingeladen werden soll. Meinen Sie, er würde kommen?
Ja, ganz sicher. Als der erste Aufruf kam habe ich sofort in Corbyns Büro angefragt, ob er zum Parteitag kommen würde. Die Antwort war, dass er sehr gerne käme. Martin Schulz muss ihn nur einladen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.