Staatsbesuch von Erdogan: „Die Medien in der Türkei sind gleichgeschaltet“
Deniz Yücel ist wieder frei, Mesale Tolu durfte das Land verlassen. Wie stellt sich die Situation für Journalisten in der Türkei ansonsten dar?
Das Ausmaß der Repression in der Türkei ist anhaltend schlimm. Auch nach der Freilassung von Deniz Yücel und der Aufhebung der Ausreisesperre von Mesale Tolu. Es sind mindestens 27 Journalisten in Haft. In diesen Fällen kennen wir die Anklageschriften und die Polizeiprotokolle. Mutmaßlich sind deutlich mehr Journalisten inhaftiert. Seit Anfang des Jahres sind 60 Haftstrafen gegen Journalisten wegen ihrer Arbeit verhängt worden. Wir erwarten, dass diese Haftbefehle bis zum Jahresende vollstreckt werden.
Welche Auswirkungen hat das auf die Medienlandschaft in der Türkei?
Die traditionellen Medien, also Fernsehen, Radio und Zeitungen, sind gleichgeschaltet. Der letzte Rückschlag war vor zwei Wochen der Wechsel im Stiftungsvorstand der Tageszeitung „Cumhuriyet“. Unabhängige relevante Medien gibt es nur noch im Internet. Es gibt Inseln der Pressefreiheit. Es gibt einflussreiche Medien und inzwischen so etwas wie eine türkische Exilmedienlandschaft in Deutschland.
Wie sieht diese aus?
Es gibt mit „Arti TV“ in Köln einen türkischen Fernsehsender. Es gibt hier in Berlin „taz.gazete“ und „Özgürüz“, ein von Can Dündar zusammen mit dem Recherchezentrum „Correctiv“ produziertes Online-Magazin, das auf Türkisch und Deutsch erscheint.
Gibt es in der Türkei selbst Inhalte, die unproblematisch sind?
Vieles kann politisch werden. Da verschieben sich die roten Linien immer wieder. Lange Zeit war der Vorwurf an Journalisten die vermeintliche Unterstützung von Terrororganisationen, also der Gülen-Bewegung oder der PKK. Seit Ausbruch der Wirtschafts- und Währungskrise bekommen Journalisten Probleme, wenn sie kritisch über die Wirtschaftspolitik berichten. Wir erleben eine Islamisierung und Politisierung der türkischen Gesellschaft, die sich auch in allen Bereichen des Journalismus zeigt. Journalisten, die trotzdem kritisch berichten, setzen sich permanenter Gefahr aus. In allen türkischen Redaktionen, die ich besucht habe, gibt es leere Schreibtische, die Kollegen gehören, die im Gefängnis sitzen.
In der Rangliste der Pressefreiheit liegt die Türkei auf Platz 157 und damit noch vor Ländern wir Iran, Ägypten oder Burundi. Was läuft in der Türkei besser als in diesen Ländern?
Es gibt ganz kleine Reste von Rechtsstaatlichkeit. Zugleich gibt es noch eine vielfältigere Medienlandschaft als in Nordkorea, Turkmenistan oder dem Iran. Das Internet ermöglicht immer noch Freiräume.
Was tut „Reporter ohne Grenzen“, um diese Inseln des unabhängigen Journalismus zu stärken?
Wenn Journalisten in der Türkei vor Gericht stehen, übernehmen wir Anwaltskosten und beobachten die Prozesse. Das ist in einem Unrechtsstaat wie der Türkei wichtig, weil Aufmerksamkeit durch eine internationale Organisation einen Unterschied ausmacht. Denn die Türkei hat den Anspruch, einen Rechtsstaat simulieren zu wollen. Bei Inhaftierten unterstützen wir zudem die Angehörigen. Im Exil ermöglichen wir Leuten einen Aufenthaltstitel durch Stipendien, damit sie hier weiterarbeiten können. Can Dündar haben wir mit den Kollegen von „Correctiv“ in Kontakt gebracht.
In dieser Woche ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Deutschland. „Reporter ohne Grenzen“ hat ihn als „Feind der Pressefreiheit“ deklariert. Was versprechen Sie sich von diesem Staatsbesuch?
Ein solcher Staatsbesuch ist eine gute Gelegenheit, unter Partnern Dinge anzusprechen. Wir erwarten von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass sie in aller Öffentlichkeit über Pressefreiheit und die Fälle inhaftierter Journalisten sprechen. Wenn das nicht passiert, wäre es eine vertane Chance. Denn Dialog ist kein Selbstzweck. Ein Gespräch muss immer ein Ziel haben.
Könnte es der Pressefreiheit helfen, dass die Türkei aktuell wirtschaftlich geschwächt ist?
Es erhöht die Chance, dass die Türkei bereit ist, Zugeständnisse zu machen, was die Freilassung von Journalisten angeht.
„Reporter ohne Grenzen“ fordert einen UN-Sonderbeauftragten für Journalistenschutz. Was könnte dieser bewirken?
Dieser wäre direkt beim UN-Generalsekretär angesiedelt. Er könnte ohne Einladung einer Regierung ermitteln, recherchieren und vermitteln. Im Fall der Türkei könnte ein solcher Sonderbeauftragter unabhängig von Regierungen Einfluss nehmen und Stellung beziehen zur Lage von inhaftierten Journalisten. Wir tun das auch häufig, aber eigentlich müsste das eine zwischenstaatliche Aufgabe sein. Ein solcher Sonderbeauftragter wäre ein etablierter Mechanismus, wenn Journalisten in Krisensituationen geraten. Er hätte eine ganz andere Legitimation als NGOs wie „Reporter ohne Grenzen“.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo