International

Proteste in Nepal: „Das politische Vakuum ist gefährlich“

Seit Tagen wird Nepal von heftigen Protesten erschüttert, ausgelöst vom – inzwischen aufgehobenen – Verbot von Social-Media-Plattformen. Wer die Demonstrierenden sind und was sie erreichen wollen, erklärt Natalia Figge von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kathmandu im Interview.

von Nikolaos Gavalakis · 12. September 2025
Soldaten stehen auf einer Straße in Nepal, vor ihnen Zivilisten mit einem Korb und einer Kiste auf dem Rücken
Army Personnel Patrol In Front Of The Presidents Residence Army personnel patrol in front of the president s residence during a curfew in Kathmandu, Nepal, on September 12, 2025, as authorities struggle to restore order after violent Gen Z protests force the resignation of the prime minister. Protest leaders name former chief justice Sushila Karki as their preferred candidate to head an interim government. Kathmandu Nepal PUBLICATIONxNOTxINxFRA Copyright: xSanjitxPariyarx originalFilename: pariyar-notitle250912_npQun.jpg

Anfang der Woche erschütterten heftige Proteste die nepalesische Hauptstadt Kathmandu. Nachdem die Regierung entschieden hatte, 26 Social-Media-Plattformen zu sperren, waren Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen. Mit dem Verbot wollte die Regierung Plattformen wie X und Facebook zwingen, sich registrieren und unter staatliche Aufsicht stellen zu lassen.

Am Montag hatte es bei Zusammenstößen zwischen Demonstrant*innenen und der Polizei in Kathmandu und anderen Landesteilen 19 Tote gegeben. Am Freitag wurde die Zahl der Opfer auf 51 angehoben.

Wie erleben Sie die Situation in Kathmandu und im Land nach dem Rücktritt der Regierung?

Die Lage ist von tiefer Unsicherheit und Spannung geprägt. Seit dem Rücktritt von Premierminister K. P. Sharma Oli herrscht politischer Ausnahmezustand. Was als Protest gegen ein Social-Media-Verbot begann, hat sich zu einer regelrechten Systemkrise ausgeweitet. Große Teile des Regierungsviertels in Kathmandu sind zerstört. Wichtige Gebäude wie das Parlament, Parteizentralen und der Oberste Gerichtshof wurden niedergebrannt.

Die Hauptstadt wirkt wie gelähmt. Viele Straßen sind gesperrt, das öffentliche Leben steht still, das Militär kontrolliert zentrale Teile der Infrastruktur. Überall sieht man ausgebrannte Gebäude und Autos. Angst, Wut, aber auch Hoffnung liegen dicht beieinander. Die Armee betonte in einer Videobotschaft ihre verfassungsschützende Rolle und hält sich bisher zurück, füllt aber gleichzeitig de facto das Machtvakuum.

In der Bevölkerung mischt sich Erleichterung über das Ende einer als korrupt empfundenen Regierung mit der Sorge vor einem möglichen Machtmissbrauch durch das Militär oder einer Vereinnahmung durch radikale Kräfte. Zwar gab es im Frühjahr Proteste, die eine Rückkehr der Monarchie forderten, doch sie waren unstrukturiert und wurden von vielen als Plattform für Frustration mit der politischen Elite wahrgenommen. Die rohe Gewalt gegen führende Politikerinnen und Politiker, gegen ihre Häuser und Einrichtungen hat Fassungslosigkeit ausgelöst und wirft einen dunklen Schatten auf die Protestbewegung. Die Dynamik ist offen, aber klar ist auch: Das politische System Nepals, wie es bislang existierte, ist zusammengebrochen und mit ihm das Vertrauen in viele demokratische Errungenschaften der letzten Dekade.

Natalia
Figge

Viele junge Nepalesinnen und Nepalesen sehen keine Zukunft im eigenen Land, während die Wirtschaft stark von Rücküberweisungen aus dem Ausland abhängt.

Welche Faktoren haben die Proteste ausgelöst – und was brachte sie schließlich zum Eskalieren?

Der unmittelbare Auslöser war das Verbot von 26 Social-Media-Plattformen. Viele empfanden das als autoritär und repressiv. Doch die Ursachen reichen tiefer: Jahrzehntelange politische Stagnation, weit verbreitete Korruption und eine zunehmend dysfunktionale Demokratie haben vor allem die junge Generation enttäuscht. Das Durchschnittsalter in Nepal liegt bei 25 Jahren und gerade die Jugend spürt die Folgen besonders.

Das System funktionierte zuletzt kaum noch. Eine politische Elite, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht war, hielt zwar demokratische Formen ein, kooperierte aber nur, solange es den Interessen einiger weniger diente. Dauerhafte Stabilität oder wirksame Regierungsführung entstanden so nie.

Hinzu kommt eine strukturelle wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, gute Jobs und Bildungswege fehlen. Viele junge Nepalesinnen und Nepalesen sehen keine Zukunft im eigenen Land, während die Wirtschaft stark von Rücküberweisungen aus dem Ausland abhängt. Der Frust über eine kleine, gut vernetzte Elite, die alle Vorteile für sich beansprucht, wurde zum Nährboden für die Proteste. Ausdruck fand das etwa im Schlagwort #NepoBabies, das die Vererbung politischer Macht innerhalb weniger Familien kritisiert.

Die Eskalation wurde ausgelöst, als Sicherheitskräfte mit massiver Gewalt auf die Proteste reagierten und die Zahl der Toten stark anstieg. Der wütende Mob griff politische Institutionen an, stürmte die Wohnhäuser führender Politikerinnen und Politiker und attackierte diese auch direkt. Die Wut richtet sich nicht nur gegen die Regierung, sondern gegen das gesamte System politischer Bevorzugung.

Eine entscheidende Rolle spielte auch die digitale Mobilisierung. Trotz Zensur konnten sich die Menschen über VPNs und verschlüsselte Kanäle vernetzen. So verbreiteten sich die Proteste rasend schnell. Sie wirkten weniger spontan als lange vorbereitet und waren in ihrer Zielgerichtetheit erschreckend effizient.

Welche Gruppen tragen die Proteste, und wie breit ist die Unterstützung in der Gesellschaft?

Im Mittelpunkt steht ganz klar die Generation Z, also junge Leute zwischen 16 und 30. Sie sind politisch ungeduldig, digital bestens vernetzt und extrem frustriert über das System. Ihre Art zu protestieren ist dezentral, kreativ und oft konfrontativ. Das läuft weniger über klassische Organisationen, sondern über digitale Netzwerke und spontane Mobilisierung.

Die Unterstützung reicht aber weit über die Städte hinaus. Auch auf dem Land wächst der Unmut, zumal viele Familien von Arbeitsmigration und wirtschaftlicher Unsicherheit betroffen sind. Arbeitslose, Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus dem Ausland, Studierende und enttäuschte Mitglieder ehemaliger Regierungsparteien haben sich der Bewegung angeschlossen. Selbst in der Diaspora ist die Solidarität spürbar, teils verbunden mit konkreter finanzieller Unterstützung.

Bemerkenswert ist die Abwesenheit einer klaren Führung. Die Gen-Z-Bewegung ist gespalten: Ein Teil favorisiert die frühere Oberste Richterin Sushila Karki als Übergangsfigur, andere wiederum Kulman Gishing, den ehemaligen Chef der Nepalesischen Elektrizitätsbehörde. Diese Spaltung spiegelt unterschiedliche Visionen: Während die einen auf Integrität und juristische Erfahrung setzen, hoffen andere auf pragmatische, wirtschaftlich orientierte Führung. Gleichzeitig werden wieder pro-monarchische Rufe lauter, die eine Rückkehr der Monarchie als „stabile Lösung“ propagieren. Eine feste, legitimierte Struktur gibt es bislang nicht. Das birgt einerseits das Risiko der Vereinnahmung durch externe oder radikale Akteure, eröffnet aber auch die Chance, politische Repräsentation jenseits der alten Parteien neu zu verhandeln.

Natalia
Figge

Ob die Armee die Demokratie schützt oder am Ende selbst zur dominanten Kraft wird, ist noch völlig offen.

Welche Rolle spielt das Militär?

Das Militär hat im Moment eine doppelte Rolle. Es wirkt einerseits stabilisierend, andererseits könnte es selbst zum politischen Machtfaktor werden. Nach dem Rücktritt des Premierministers hat es Schlüsselbereiche der öffentlichen Ordnung übernommen, darunter zentrale Infrastrukturen wie den Flughafen, Sicherheitsorgane und Medienzentren. Gleichzeitig präsentiert sich die Armeeführung öffentlich als Garant der verfassungsmäßigen Ordnung, ohne jedoch konkret zu erläutern, wie ein Machtübergang aussehen soll.

Während der Eskalation hat das Militär taktisch geschickt gehandelt: Es ist gegenüber den Demonstrierenden meist zurückhaltend geblieben, hat aber gezielt eingegriffen, zum Beispiel um Regierungsvertreter in Sicherheit zu bringen oder Eskalationen an symbolischen Orten wie dem Pashupatinath-Tempel zu verhindern. Intern soll es den Rücktritt des Premiers zur Bedingung für ein eigenes Eingreifen gemacht haben, was auf einen bewussten politischen Einfluss hindeutet.

Auch 2006, beim politischen Umbruch, war das Militär schon im Hintergrund präsent – und ohne sich direkt in den politischen Prozess einzumischen. Jetzt dürfte es wieder entscheidend sein: als Vermittler oder eben als Gatekeeper, der bestimmt, wie es politisch weitergeht. Ob die Armee die Demokratie schützt oder am Ende selbst zur dominanten Kraft wird, ist noch völlig offen.

Nepal liegt zwischen China und Indien. Wie beeinflussen die beiden Nachbarstaaten die aktuelle Krise?

China und Indien haben beide großes Interesse an dem, was in Nepal passiert. Die konkrete Regierungsform ist ihnen dabei weniger wichtig. Entscheidend ist, dass Instabilität direkt ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen berührt. Offiziell halten sich beide im Moment zurück, aber hinter den Kulissen dürften sie längst Einfluss nehmen. Indien betrachtet Nepal traditionell als Teil seines sicherheitspolitischen Einflussbereichs und reagiert besonders sensibel auf Anzeichen einer Annäherung an China. Umgekehrt investiert China seit Jahren gezielt in nepalesische Infrastruktur und strategische Sektoren im Rahmen der „Belt and Road“-Initiative. Die wechselnden politischen Mehrheiten in Nepal haben über Jahre hinweg meist ein Gleichgewicht zwischen beiden Nachbarn hergestellt. Die aktuelle Krise könnte dieses Gleichgewicht jedoch ins Wanken bringen.

Es gibt Gerüchte, dass beide Länder direkten Kontakt zu Militärvertretern und aufstrebenden politischen Akteuren suchen. Für Nepal selbst ist die eigentliche Herausforderung daher, inmitten eines geopolitischen Wettlaufs, der im Moment noch diskret läuft, aber durchaus destabilisierend wirken kann, seine Souveränität zu wahren.

Natalia
Figge

Wenn es der Bewegung gelingt, ihre Energie in Strukturen zu lenken, echte Repräsentation zu schaffen und demokratische Werte zu verteidigen, könnte daraus langfristig eine neue politische Kraft entstehen.

Sehen Sie eine Chance, dass die Proteste nicht nur kurzfristige Zugeständnisse erzwingen, sondern zu nachhaltigen politischen Reformen führen?

Die Proteste sind ohne Zweifel ein historischer Einschnitt. Sie haben das politische System Nepals regelrecht erschüttert. Ob daraus aber wirklich nachhaltige Reformen entstehen, bleibt ungewiss. Der Wille zur Veränderung ist da, das spürt man. Aber die Gewalt, die Zerstörung staatlicher Institutionen, historischer Gebäude und von Medienhäusern hat viel Vertrauen zerstört – nicht nur in die Institutionen, sondern teilweise auch in die Protestbewegung selbst.

Das politische Vakuum ist gefährlich: Die alte Elite ist diskreditiert, aber neue Kräfte haben sich noch nicht etabliert. Die Bewegung ist bislang kopflos, und es fehlt an programmatischer Klarheit. Viele in der Zivilgesellschaft warnen: Wut allein reicht nicht. Eine Revolution braucht Organisation, Ideale und den Willen, etwas Neues aufzubauen. Der Ruf nach starken Einzelpersonen ist verständlich, doch am Ende hängen echte Reformen nicht an Persönlichkeiten, sondern an Prinzipien und Institutionen.

Wenn es der Bewegung gelingt, ihre Energie in Strukturen zu lenken, echte Repräsentation zu schaffen und demokratische Werte zu verteidigen, könnte daraus langfristig eine neue politische Kraft entstehen. Die Spaltung innerhalb der Gen Z zeigt jedoch, dass unterschiedliche Vorstellungen über Führung und Strategie existieren. Gleichzeitig wächst der Einfluss pro-monarchischer Stimmen. Gerade die junge Bevölkerung, die nach dem Bürgerkrieg 2006, der Abschaffung der Monarchie und der Verabschiedung der neuen Verfassung von 2015 erst seit rund 20 Jahren in einer Demokratie lebt, weiß, wie fragil dieses System ist. Der Weg zurück zu Stabilität und Vertrauen wird lang sein.

Der Text erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Nikolaos Gavalakis

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Zuvor war er Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Er hat in Mainz und Kalifornien Politikwissenschaft, Jura und Amerikanistik studiert.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.