Krise in Frankreich: „Die Ungleichheit hat seit Macrons Wahl zugenommen“
Frankreichs Ex-Premierminister und Sozialist Jean-Marc Ayrault spricht im Interview über die Gründe für den Abgang des Regierungschefs François Bayrou, die Ursachen der Protestbewegung „Bloquons tout“ und die Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der Sozialisten.
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Die Protestbewegung „Bloquons tout“ demonstriert gegen Frankreichs Regierung.
Frankreichs Premierminister François Bayrou ist gestürzt. Es ist nicht das erste Mal seit der Wiederwahl von Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2022, dass ein Regierungschef gehen muss. Was ist an dieser Krise anders?
Ich hoffe, dass wir mit dem Rücktritt Bayrous den Höhepunkt dieser aktuellen Krise erreicht haben. Fest steht aber auch, dass wir uns mitten in einer ziemlich ernsten Entwicklung befinden, was das Vertrauen und der Funktionsfähigkeit unserer Institutionen anbelangt. Diese tiefer gehende Krise ist auf die Wahl Emmanuel Macrons im Jahr 2017 zurückzuführen. Macron versprach damals eine grundlegende Reform der französischen Politik, die Stärkung der Demokratie und die Anerkennung gesellschaftlicher Akteure. Tatsächlich nutzte er die von General de Gaulle geschaffenen Institutionen aber, um eine auf ihn zugeschnittene Machtposition zu erlangen – zum Nachteil des Parlaments, zum Nachteil des Dialogs mit den Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und zum Nachteil des Dialogs mit den gewählten Vertretern der französischen Regionen. Macron hat die Realitäten im Land verkannt.
Hat auch ein gewisser autoritärer Zug Macrons zu dieser Krise beigetragen?
Wenn man sich die verschiedenen französischen Staatschefs anschaut, dann hat deren politische Stärke nichts mit dem zu tun, was wir aus den meisten anderen Demokratien kennen. Vergleicht man den französischen Präsidenten mit dem deutschen Bundeskanzler, so ist Emmanuel Macron sehr, sehr weit gegangen, um seine alleinige Machtausübung zu stärken. Dies geschah zum Nachteil der Macht des Premierministers und insbesondere dessen Rolle bei der Bildung von Koalitionen und Mehrheiten in der Nationalversammlung.
Hinzu kommt die Bewegung „Bloquons tout“ („Alles blockieren“), die im Protest gegen Bayrous Regierungspolitik entstanden ist. Was unterscheidet diese Bewegung von den „Gelbwesten“, die vor knapp sieben Jahren auf die Straße gegangen sind?
Es gibt zweifellos Gemeinsamkeiten, nämlich die Unzufriedenheit der Arbeiter- und Mittelschicht, die nicht genug Gehör findet und deren Leben sich inmitten sozialer und finanzieller Schwierigkeiten sowie Ungleichheit abspielt. Auf der anderen Seite gibt es bei „Bloquons tout“ eine andere Politisierung durch das Eingreifen radikaler linker Bewegungen. Sicher ist, dass in Frankreich derzeit ein Klima tiefer Unzufriedenheit herrscht. Die Ungleichheit hat seit Macrons Wahl zugenommen. Sie stellt alle politischen Parteien vor eine Herausforderung, nicht nur Macron und seine Regierung. Sie erzeugt eine Stimmung der Wut, die tief sitzt. Die Politik bietet ein Spektakel, das eine Form der Ohnmacht darstellt, was wiederum die Wut noch verstärkt. Im Moment haben die verschiedenen Protestbewegungen kein politisches Ventil. Aber am Ende könnten sie letztlich den „Rassemblement National“ von Marine Le Pen stärken.
Sehen Sie es als Problem, dass der Linksaußen Jean-Luc Mélenchon zu den stärksten Unterstützern der „Bloquons tout“-Bewegung gehört?
Eine radikale Linke, die versucht, die Führung dieser Bewegung zu übernehmen, riskiert, sie zu schwächen. Das Misstrauen gegenüber dem Politikbetrieb ist so groß, dass es diese Bewegung kaum stärken wird. Andererseits ist Jean-Luc Mélenchons Strategie eine Strategie des Chaos, eine Strategie, die alles in Frage stellen will. Insbesondere fordert er den Rücktritt von Emmanuel Macron, was wir nicht akzeptieren können. Ich denke, wir müssen den Wahlkalender respektieren, der die Präsidentschaftswahl für 2027 vorsieht. Ansonsten kann unsere Demokratie nicht funktionieren. Und Jean-Luc Mélenchon und seine Partei „La France Insoumise“, die radikale Linke, haben noch einen weiteren Nachteil: Sie schwächen den Rest der Linken. Das erschwert es letztlich, eine Lösung für die Probleme des Landes zu finden, die die Linke mit ihrer Politik verkörpern könnte. Diese Kluft zwischen der radikalen Linken und der Regierungslinken besteht übrigens nicht nur in Frankreich.
Premierminister Bayrou ist unter anderem gestürzt, weil er Kürzungen von rund 44 Milliarden Euro im nächsten Haushalt 2026 vorschlug. In seiner letzten Rede vor dem Sturz in der Nationalversammlung sagte er den Abgeordneten, sie könnten die Regierung zu Fall bringen, aber sie könnten die Realität nicht verändern. Hat Bayrou Recht?
Es geht nicht darum, die Realität zu leugnen. Die Schulden und Defizite Frankreichs sind nichts Irreales. Aber die Frage ist, wie wir das Problem lösen können. François Bayrou hat nicht nur eine Diagnose vorgelegt, sondern sie noch verschlimmert. Er hat ein Klima der Angst geschaffen und vor allem angedeutet, dass alle, insbesondere die unteren Schichten, für die französischen Ausgaben aufkommen würden. Deshalb ist seine Botschaft überhaupt nicht angekommen. Zudem machte François Bayrou einen zweiten Fehler: Er ließ sich nicht auf Diskussionen und Verhandlungen mit den politischen Kräften ein, die möglicherweise einen Haushalt hätten vorbereiten und dafür sorgen können, dass Frankreich sich in eine konstruktivere Richtung bewegt. Daher hat er seinen Sturz größtenteils selbst zu verantworten.
Unter welchen Bedingungen könnte Ihre Partei, die Sozialisten, den Haushalt 2026 unterstützen?
Die Sozialisten haben bereits einiges vorgeschlagen. Sie stehen vor allem für mehr Gleichheit und vor allem mehr Steuergerechtigkeit. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass Maßnahmen gegen Defizite und Schulden nicht zu einer Kürzung der Investitionen in den Bereichen führen, wo das Land Prioritäten setzen muss – also in allem, was mit Bildung zu tun hat, und auch im ökologischen Wandel. Es muss ein Gleichgewicht zwischen Sparen und Steuererhöhungen für die Reichsten geben. Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind, sehe ich nicht, wie die Linke eine neue Regierung unterstützen könnte. Es liegt daher in der Verantwortung von Emmanuel Macron, dies zu berücksichtigen und sicherzustellen, dass der künftige Premierminister nicht nur sein Assistent, sondern ein echtes Regierungsoberhaupt ist, das in der Lage ist, Mehrheiten in der Nationalversammlung aufzubauen. Dabei darf ihm der Präsident der Republik nicht jeden Morgen vorschreiben, was er zu tun hat.
Was wird nach den Präsidentschaftswahlen 2027 von Macrons Partei „Renaissance“, die mit der Bewegung „En Marche“ begann, übrig bleiben?
Seine Partei „Renaissance“ ist eng mit Emmanuel Macron verbunden, sie hat keine eigene Existenz. Es gibt keine macronistische Partei, sondern nur eine Wählerbewegung, die von Jahr zu Jahr schwächer geworden ist und inzwischen auf dem Tiefpunkt angekommen ist. Daher glaube ich nicht, dass die „Macronie“ eine große Zukunft hat.
Ist es Macrons Schuld, dass die Rechtsextremen von Marine Le Pen und die Linksextremen von Jean-Luc Mélenchon in Frankreich heute stärker sind denn je?
Die Frage ist, wie wir auf die Bestrebungen der Mittel- und Arbeiterklasse reagieren können, ohne die Demokratie zu zerstören. Wenn die Reaktionen anderer politischer Kräfte bisher nicht zufriedenstellend waren, ist es höchste Zeit, daran zu arbeiten. Denn die Zukunft der Demokratie steht auf dem Spiel, und das gilt nicht nur für Frankreich.
arbeitet als freier Journalist in Berlin und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den politischen Entwicklungen in Frankreich.
es geht gegen Melechon.
Ich erinnere mich an Artikel im vorwärts, in denen dieser Macron zum Sozaldemokraten ernannt wurde.
Lernfähigkeit ist nicht die oberste Tugen der SPD-Spitze.
Über einen Beleg der Aussage, wir hätten Macron als Sozialdemokraten bezeichnet, freuen wir uns.
Sozialdemokrat habt ihr diesen französischen Merz nicht genannt, aber die Artikel aus dem Zeitraum 2017-2024 legen nahe, daß er euer (v-redaktion) bevorzugter Kandidat war.