vorwärts.de: Am Montag haben sich die EU-Außenminister auf ihre Afghanistan-Strategie für die Konferenz in London an diesem Donnerstag geeinigt. Sie wollen zukünftig vor allem auf ziviles
Engagement setzen. Ist das der richtige Ansatz?
Wolfgang Kreissl-Dörfler: Das ist definitiv die richtige Strategie. Zum einen sind nicht alle EU-Mitgliedstaaten militärisch in Afghanistan engagiert, zum anderen hat die EU keinen eigenen
militärischen Auftrag. Unsere Aufgabe ist es, den Aufbau des Landes zu fördern.
Die Bilanz der Staatengemeinschaft fällt gut acht Jahre nach der Intervention in Afghanistan eher schlecht aus. Was muss sich ändern am Hindukusch?
Damals ist man mit völlig falschen Erwartungen nach Afghanistan gegangen. Vor einer Intervention hätte man nochmal in die Geschichtsbücher schauen müssen, um zu sehen, wie die Gruppierungen
im Land strukturiert sind. Zum anderen ist auch klar, dass bisher viel zu wenig auf den zivilen Aufbau gesetzt wurde und man immer gedacht hat, die Afghanen schaffen das schon. Der Blick war auf
Kabul und Karsai verengt. Viele haben sich nicht genug Gedanken gemacht, was im Umfeld passiert. Natürlich kann ziviler Aufbau aber nur dann passieren, wenn diejenigen, die ihn leisten sollen,
auch geschützt werden. Doch da hat Deutschland - insbesondere Bayern -, was etwa die Ausbildung von Polizeikräften anbelangt, seine Zusagen nicht erfüllt.
Eine Verbesserung ist also vor allem in diesem Bereich notwendig?
Es ist sehr wichtig, dass den Afghanen ermöglicht wird, die Sicherheit vor Ort zu garantieren. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie von den Polizeikräften nicht zusätzlich
drangsaliert werden, sondern dass sie in der Lage sind, sie auch zu schützen. Dieser Punkt ist in weiten Teilen vernachlässigt worden. Klar ist auch, dass sich die Taliban aus dem Drogenanbau und
der organisierten Kriminalität finanzieren. Auch deshalb ist mehr und besser ausgebildete Polizei wichtig.
Sie haben kritisiert, dass die afghanische Zivilgesellschaft bisher zu wenig berücksichtigt wird. Ändert sich hier etwas durch den neuen Ansatz?
Ich hoffe, dass die Menschen vor Ort zukünftig besser in die Planungen für die Zukunft des Landes mit einbezogen werden. Allein mit den Vorstellungen, wie wir sie hier in Europa haben,
können wir in Afghanistan keinen Blumentopf gewinnen. Schon in den 70er Jahren sind wir im Entwicklungsbereich von einem paternalistischen zu einem partnerschaftlichen Ansatz umgeschwenkt. Der
wird bisher in Afghanistan noch zu wenig verfolgt.
Anfang der Woche hat sich die deutsche Regierung auf ihre Afghanistan-Strategie festgelegt. Sie umfasst einen Ausbau der zivilen Hilfe, aber auch mehr Soldaten. Wie wird das in Brüssel
bewertet?
Sehr unterschiedlich. Das hängt von den einzelnen Mitgliedstaaten ab. Die einen sind sehr dafür, die militärische Seite zu stärken, wie es auch die USA fordern. In anderen Ländern läuft die
Debatte ganz anders. Hier steht die Frage im Vordergrund, was es bedeutet, mehr Soldaten zu schicken und wie das Ganze in eine Gesamtstrategie eingebettet ist. Und natürlich muss man auch
erklären, mit welchem Auftrag die Soldaten nach Afghanistan gehen. Das ist nicht zuletzt für sie selbst die entscheidende Frage.
Diskutiert wird auch über die Wiedereingliederung moderater Taliban. Ist das europäischer Konsens?
Ja, da herrscht weitgehende Übereinstimmung. Klar ist, dass nicht jeder, der zu den Taliban kommt, auch ein eingefleischter und überzeugter Taliban ist. Viele entscheiden sich eher aus der
Not heraus für diesen Weg, weil etwa ihre Angehörigen bei Überfällen oder Angriffen ums Leben gekommen sind. Denen muss ein Angebot gemacht werden. Das ist zu lange vernachlässigt worden.
Allerdings müssen das die Afghanen selbst übernehmen. Wir können nicht als Verhandlungsführer auftreten, sondern die Wiedereingliederung nur unterstützen. Dazu gehört es, auch finanzielle
Angebote zu machen. Aber natürlich wird man Hardcore-Taliban nicht "rauskaufen" können.
Strittig ist die Frage, ob ein Zieldatum für den Truppenabzug sinnvoll ist.
Die SPD nennt dafür einen Zeitkorridor zwischen 2013 und 2015. Warum?
Der Korridor ist auf zwei Seiten wichtig: zum einen für die Afghanen, damit sie sehen, dass das internationale Engagement kein Endlosspiel ist, zum anderen aberauch für die deutsche
Bevölkerung und die Soldaten. Ihnen muss klar sein, dass ihr Einsatz begrenzt ist und es eine Abzugsstrategie gibt. Natürlich bedeutet das auch, dass man die Politiken vor Ort - im
Entwicklungsbereich wie bei der Polizeiausbildung - verstärkt angehen muss.
Abschließend: Wird die EU auf der Londoner Konferenz mit einer Stimme sprechen?
Gerade was den zivilen Bereich angeht, wird sie das sicher tun. Das Militärische obliegt ja weiterhin den einzelnen Mitgliedsstaaten. Entscheidend wird trotzdem sein, zu zeigen, dass sich
die EU auch beim militärischen Szenario weitgehend einig ist. Das erleichtert den Mitgliedsstaaten die Gesamtdebatte, stärkt aber auch ihre Position gegenüber den Partnern außerhalb der
Europäischen Union - als allererstes gegenüber den USA.
Interview: Kai Doering
Wolfgang Kreisl-Dörfler
ist seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments (zunächst für Bündnis 90/Die Grünen, seit 2000 für die SPD). Dort ist er Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.
Sein Fachgebiet ist die Entwicklungshilfe. Von 1986 bis 1987 war er als Experte der Welthungerhilfe in Angola. 2001 leitete er die EU -Wahlbeobachter-Kommission in Ost- Timor, 2007 in
Guatemala.