Inland

SPD Berlin: „Wahlprogramm braucht klaren sozialdemokratischen Markenkern“

Bis zum Frühjahr 2026 arbeitet die SPD Berlin an ihrem Programm für die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Grundlage dafür ist das Zukunftskonzept „Berlin 2035“. Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach erklärt, wo die SPD nachbessern sollte. Sie fordert mehr Mut zu linken Positionen.

von Nils Michaelis · 19. November 2025
SPD-Spitzenkandidat Steffen Krach beim Landesparteitag

Steffen Krach beim SPD-Landesparteitag am 15. November. Dort wurde der frühere Wissenschaftsstaatssekretär zum Spitzenkandidaten bei der Abgeordnetenhauswahl im September 2026 gekürt.

So viel Zukunft war selten in der Berliner SPD. Während des einjährigen „Zukunftsprozesses“ hat die Partei mit Menschen aus der Stadtgesellschaft die dringlichsten Themen der Hauptstadt ausgelotet, etwa Mieten und Verkehr. Daraus entstand das Zukunftskonzept „Berlin 2035“. Mit ihm im Rücken will SPD-Spitzenkandidat Steffen Krach im September 2026 das Rote Rathaus zurückerobern. 

Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach hat den „Zukunftsprozess“ bei einigen Veranstaltungen begleitet. Im Interview beschreibt sie, ob und wie „Berlin 2035“ den Wahlkampf der SPD beflügeln kann. 

Bei der Vorstellung des Zukunftsplans der Berliner SPD sagte Sie, es gebe noch Fragezeichen. Was vermissen oder kritisieren Sie?

Der Zukunftsplan beinhaltet ein riesiges Portfolio an Einzelforderungen in unterschiedlichen Politikfeldern. Für eine Zukunftsvision sind sie sehr kleinteilig. Die größte Herausforderung ist dabei die Glaubwürdigkeit. Für zahlreiche dieser Ideen für Berlin im Jahr 2035 fehlen der SPD die nötigen politischen Mehrheiten. Wenn die Partei ernsthaft an diesen Zielen festhält, müsste sie deutlich stärker für linke Mehrheiten werben und damit die Wahrscheinlichkeit für eine erneute Koalition mit der CDU minimieren. Denn in einem Bündnis mit der CDU würden sich weite Teile des Zukunftsplans nicht umsetzen lassen. 

Dazu kommt, dass die Vision einer positiven Zukunft in der politischen Kommunikation zwar verlockend klingt, momentan für sehr viele Menschen aber nicht greifbar erscheint. Sie fragen sich, wie der Rest des Jahres läuft, wie das nächste Jahr wird, suchen nach Stabilität und Sicherheit.

Wie könnte eine sozialdemokratische Erzählung für Berlin aussehen, die zugleich visionär und machbar ist?

Sie müsste erklären – und das hat SPD-Kandidat Steffen Krach bei der Vorstellung des Zukunftsplans ganz gut gemacht –, wie eine lebenswerte Stadt aussieht. Und zwar eine Stadt für viele, also auch für klassische Familien aus der Mittelschicht und eher konservative Sozialdemokraten und gleichzeitig auch für progressive Milieus. Bislang bleibt noch unklar, was gemeint ist, wenn die SPD sagt, man wolle Menschen, die hart arbeiten, schützen und unterstützen. 

Einige Ideen sind da, aber die Erklärung, warum die Berliner*innen darauf vertrauen können sollen oder sollten, dass der Zukunftsplan ihnen eine attraktive Perspektive bieten würde, fehlt bislang. Vieles ist zu abstrakt und muss auf die Lebenswelten der Menschen heruntergebrochen werden. Bei einem der Kernthemen, der Lösung der Wohnungskrise, bleibt die SPD meines Erachtens noch zu vage.

Expertin für Parteien

Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach (hier bei einer Veranstaltung der SPD Berlin zur Vorstellung des Zukunftsprogramms „Berlin 2025“) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Sie lehrt und forscht unter anderem zu Parteien und Wahlkämpfen.

Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach

Was muss die SPD tun, um aus dem Zukunftsplan ein schlagkräftiges Wahlprogramm zu machen?

Für viele Forderungen vom Klimaschutz bis zur Wohnungskrise müsste sie wohl stärker nach linken Mehrheiten suchen. Das ist aber nicht leicht, zumal die Partei in einigen Umfragen aktuell auf Platz fünf liegt. Die Wahrscheinlichkeit scheint also zumindest aktuell recht hoch, dass sich die SPD 2026 wohl in einer Situation wiederfindet, in der sie keine Regierung anführt, sondern eher mitregiert. Und dann stellt sich die Frage, ob man dennoch für diese Projekte linke Mehrheiten suchen will. 

Das Wahlprogramm braucht aber in diesen Themen einen klaren sozialdemokratischen Markenkern, der klarmacht, was für Steffen Krach und die SPD ihre Kernanliegen sind, aber auch, wo man flexibel ist. Die SPD sollte eher auf ökonomisch linkere Positionen als auf Themen rund um Diversität und Vielfalt setzen, die gerade in Berlin Grüne und Linke bespielen. 

Zum Beispiel?

Ich erinnere da gerne an die Bundestagswahl 2021 und die sogenannte „Respekt-Kampagne“. Respekt ist nicht nur die schnelle Zuspitzung auf die Umverteilung zwischen Arm und Reich, sondern praktisch gesprochen, dass Menschen die in einer Metropole leben und arbeiten in der Lage sind, von diesem Geld ihre Wohnung zu bezahlen, nicht an den Rand der Stadt gedrängt werden, dass sie am kulturellen Leben der Stadt teilnehmen, sich in der Stadt gut bewegen können und für ihre Kinder gute Bildungsmöglichkeiten vorfinden. Dafür brauchen die Menschen natürlich gute Löhne und sichere Jobs. Die Verbindung von Wirtschaftswachstum- und stabilität mit diesen Respekt-Themen scheint mir weiterhin bedeutsam.

Auch sollte die SPD ihren Begriff der Arbeiterin und des Arbeiters stärker reflektieren. Sie könnte deutlich stärker zur Partei der Pflegekräfte und Kita-Erzieher, also der Arbeiter von morgen, werden, anstatt den Begriff vorrangig über die Industriearbeiterschaft zu definieren. 

Wie könnte die SPD das Kernthema Wohnen mit Leben füllen?

Zunächst müsste man die Wohnungsnot in ihren verschiedenen Ausprägungen erkennen. In Kombination mit Leerstand, überteuerten Vermietungen, Gentrifizierungsprozessen und starkem Zuzug ist der Wohnungsmarkt sehr komplex geworden. Es geht darum Auswege aufzuzeigen, ohne sich in unrealistischen Versprechen zu verlieren. Entscheidend ist eine Maßnahmenvielfalt für mehr Wohnraum. 

Der Verlust der Sozialbindung bei Wohnungen ist ein weiteres Thema. Die SPD sollte erfolgreiche Geschichten erzählen und zeigen, wo mit Blick auf die Quartiersentwicklung etwas gut funktioniert. Zum Beispiel Projekte für Mehr-Generation-Wohnen oder genossenschaftlich organisiertes Wohnen. Die Frage ist: Kann die SPD zeigen, dass sie für solche Ideen und Projekte die Ermöglicherin sein will? 

Julia 
Reuschenbach

Die SPD sollte eher auf ökonomisch linkere Positionen als auf Themen rund um Diversität und Vielfalt setzen.

Ist es glaubwürdig, den Wähler*innen zu sagen, die Wohnungskrise werde im Jahr 2035 beendet sein?

Menschen vertrauen immer weniger darauf, dass Parteien und andere Institutionen der Demokratie Lösungen für ihre Probleme anbieten. Zudem leidet die Berliner SPD unter der Misere der Bundespartei und darunter, dass es der Ampel-Regierung nicht gelungen ist, wie geplant jährlich 400.000 neue Wohnungen fertigzustellen. 

Wenn heute jemand erzählt, die Wohnungskrise werde 2035 gelöst sein, dann erwartet diese Person, dass man ihr auf zehn Jahre einen Vertrauensvorschuss gibt. Das ist aber erst nach dem Ende der übernächsten Legislaturperiode. Aus meiner Sicht wäre schon viel gewonnen, wenn man sagen würde: Wie stellen wir uns Berlin in diesem Punkt im Jahr 2028 vor? Wenn man definieren würde: Was sind die wichtigsten Sachen, die wir zum Beispiel beim Thema Wohnen anpacken wollen? 

Könnte dieser Zukunftsplan dazu beitragen, für die SPD in Berlin neue  Wähler*innengruppen zu erschließen? 

Ich kann mir vorstellen, dass das Zukunftskonzept zumindest eine Chance dafür bietet, wieder besser ein Gefühl dafür zu kriegen, wofür die Berliner SPD überhaupt steht. Was in dem Zukunftsprozess erarbeitet wurde, sollten Steffen Krach und die SPD jetzt in die Parteibasis und die Breite der Stadt tragen, um daraus eine schlagkräftige Wahlkampagne abzuleiten. Aber das gelingt nur, wenn der Kandidat von der Partei getragen wird und diese sich nicht in personelle Querelen verliert, die dann vor inhaltlichen Fragen dominieren. 

Bei der Wiederholungswahl 2023 hat die SPD viele Stimmen an die CDU verloren. Viele wählten die CDU aber nicht aus Überzeugung, sondern um ihren Unmut über den rot-rot-grünen Senat auszudrücken. Die Sozialdemokratie könnte sich also auf den Weg machen, diese Leute zurückzugewinnen. Mit einer pragmatischen, eher ideologiearmen linken Politik könnte sie in der politischen Mitte und im Mitte-Links Spektrum erfolgreich sein. 

Die SPD war lange Zeit die Großstadtpartei in Deutschland. Ist dieser Zukunftsplan für Berlin ein Modell auch für andere Metropolen und womöglich ein Weg, an den einstigen Erfolg als Partei der urbanen Ballungszentren anzuknüpfen? 

Letzteres halte ich nicht für ausgeschlossen. Dass man also in der Lage ist, zu zeigen, was sozialdemokratische Politik in urbanen Stadträumen bedeuten kann. Was den Modellcharakter betrifft: Die Parameter vergleichbarer Städte wie Hamburg und München sind schon andere. Was mit Steffen Krach in Berlin funktioniert, taugt nicht automatisch für andere Metropolen. Man könnte aber Synergien aufzeigen, die Großstadt-SPD stärker vernetzen und gemeinsam zeigen, wie soziale Politik in Ballungsräumen funktioniert. Davon könnte die SPD insgesamt profitieren. 

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