Gustav Heinemann wusste es schon damals. "Kippt der soziale Ausgleich, kippt auch die Demokratie", warnte der frühere Bundespräsident die Deutschen. Was Heinemann zu Diskussionen über
Hartz-IV-Sätze und "spätrömische Dekadenz" gesagt hätte, weiß niemand, doch wäre seine Warnung im Jahr 2010 wohl noch deutlicher ausgefallen: 14 Prozent der Deutschen leben in Armut, drei
Millionen davon sind Kinder und Jugendliche und 42 Prozent allein erziehend - Tendenz steigend.
Kein Wunder also, dass der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz Wolfgang Gern deutliche Worte fand bei der Auftaktveranstaltung des "Europäischen Jahrs gegen Armut und soziale
Ausgrenzung" in der Berliner Filiale der Heinrich-Böll-Stiftung. "Wir brauchen einen Weckruf für die Öffentlichkeit", forderte Gern. Damit umriss er auch Sinn und Zweck der
Kampagne, die zeitgleich in allen 27 EU-Staaten sowie in Norwegen und Island stattfindet.
Von der Leyen gegen "Generalverdacht" für Langzeitarbeitslose
"Der Sozialstaat ist ein unaufgebbarer Teil unsere Demokratie", so Gern. Mit der Kampagne solle all denjenigen "die rote Karte" gezeigt werden, die Menschen aufgrund ihrer Armut
diskriminierten. Obwohl er nur einmal an diesem Vormittag namentlich erwähnt wurde ("Wir müssen so über unsere Gesellschaft reden, dass jeder, auch der Guido, dabei ist", so der Soziologe Heinz
Bude), waren Vizekanzler Guido Westerwelle und seine Äußerungen über Hartz-IV-Bezieher allgegenwärtig.
Es gebe zwar Missbrauchsfälle bei Hartz IV, so Sozialministerin Ursula von der Leyen, doch seien die keine Berechtigung "alle Langzeitarbeitslosen unter Generalverdacht zu stellen. Das
werde ich nicht zulassen." Statt Scheindebatten zu führen, müsse die Wurzel des Übels bekämpft werden, forderte die CDU-Politikerin. "Wir müssen eine Debatte über die Verantwortung der
Gesellschaft führen und nicht über Faule und Findige."
Kritik von Jusos und SPD-Senioren
Grundsätzliche Zustimmung bekam die Sozialministerin von der Juso-Vorsitzenden Franziska Drohsel. "Anstatt über Leistungskürzungen zu diskutieren, muss es ein Verfahren zur
Bedarfsfeststellung von Kindern geben, in dem das soziokulturelle Existenzminimum ermittelt wird",
forderte Drohsel in einer Erklärung. Allerdings kritisierte sie die Langsamkeit der
Bundesregierung: "Alle Ideen liegen auf dem Tisch. Wenn Frau von der Leyen wirklich gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorgehen will, muss sie jetzt handeln."
Die Vorsitzende der AG SPD 60 plus, Erica Drecoll, forderte die Regierung auf, ihre "Blockadepolitik" bei der Einführung von Mindestlöhnen zu beenden. "Gute Arbeit und Mindestlöhne sind die
wichtigsten Instrumente zur Vermeidung späterer Altersarmut", erklärte Drecoll. Steigende Löhne bedeuteten auch steigende Renten.
Informationen zum Europäischen Jahr zur Bekäpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung unter
www.mit-neuem-mut.de