30 Jahre nach Srebrenica: „Die Serben leugnen den Völkermord bis heute“
Das Massaker von Srebrenica war das verheerendste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Interview spricht die SPD-Bundestagsabgeordnete Jasmina Hostert über die Aufarbeitung des Genozids. Und darüber, welche Perspektive Bosnien und Herzegowina jetzt brauchen.
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Gedenkort Srebrenica in Bosnien und Herzegowina: Zum Jahrestag des Massakers an rund 8.000 muslimischen Männern und Jungen betet eine Frau für ihre Angehörigen.
Zwischen dem 11. und 19. Juli 1995 erfuhren die Gewaltexzesse gegen Zivilist*innen während des Bosnienkriegs im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina einen monströsen Höhepunkt: Serbische Soldaten, Paramilitärs und Polizisten erschossen rund 8.000 bosnisch-muslimische Männer und Jungen in Srebrenica. Die vormalige UN-Schutzzone wurde zum Symbol unmenschlicher und organisierter Brutalität.
30 Jahre später erinnert zum ersten Mal ein Internationaler Gedenktag an das Grauen. Auch der Deutsche Bundestag debattiert am Freitag über die Vorgänge. Für die SPD-Fraktion wird die Bundestagsabgeordnete Jasmina Hostert das Wort ergreifen. Die 42-Jährige hat den Bosnienkrieg als Kind miterlebt. 1992, im ersten Kriegsjahr, floh sie mit ihrem Vater aus ihrer Geburtsstadt Sarajevo nach Deutschland, um sich dort im Krankenhaus behandeln zu lassen. Während des Beschusses der Stadt hatte sie einen Arm verloren.
Mit Blick auf die Ukraine haben Sie gesagt, in jedem flüchtenden Kind würden Sie sich selbst sehen. Was sehen Sie, wenn Sie an das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren denken?
Ich sehe die Tragödie, die passiert ist. Das Ohnmachtsgefühl angesichts der Ereignisse, die so schrecklich sind, dass man sie kaum verarbeiten kann, ist immer da. Ich nehme aber auch wahr, wie viel Kraft die Überlebenden haben, die die Gedenkstätte aufgebaut haben, die ich vor einigen Wochen besucht habe. Dieser sichtbare Ort hält die Erinnerung wach und macht klar: Was geschehen ist, kann man nicht einfach wegwischen. Dafür kämpfen die Menschen jeden Tag.
Welche Bilder haben Sie im Kopf, wenn Sie sich die Ermordung von rund 8.000 bosnischen Männern und Jungen in Erinnerung rufen?
Ich habe die vielen verzweifelten Mütter mit ihren Kindern auf dem Arm vor Augen, die weinen, schreien und in die völlig überfüllten Bussen einsteigen. Ich sehe, wie sie zuvor, teilweise mit den Männern, in das Dorf Potočari gelaufen sind, um Schutz zu finden. In der Hoffnung, am Leben zu bleiben, dass alles gut ausgeht. Und dann passiert aber das Unvorstellbare, ein Völkermord, mitten in Europa. Tausende werden einfach ermordet, die Angehörigen in unendliches Leid gestürzt.
Jasmina
Hostert
Was in Srebrenica geschehen ist, kann man nicht einfach wegwischen. Dafür kämpfen die Menschen der Gedenkstätte jeden Tag.
Am 11. Juli gibt es zum ersten Mal einen Internationalen Gedenktag für die Opfer von Srebrenica. Am selben Tag sind die Ereignisse Thema im Bundestag, wo Sie eine Rede halten werden. Was bedeutet Ihnen die Erinnerung daran, was damals passiert ist?
Solche Jahrestage sind wichtig, damit man nicht vergisst, was passiert ist. Es kommen immer mehr internationale Gruppen nach Srebrenica. Aber auch während der restlichen Zeit des Jahres sollte man die Aufmerksamkeit auf die Überlebenden und die Gedenkstätte lenken.
Mich beeindrucken der Mut und das Durchhaltevermögen der Menschen, die den Gedenkort erschaffen haben und professionell führen. Immer wieder wendet sich die Führung der serbischen Entität (auch bekannt als „Republika Srpska“, d. Red.) gegen die Gedenkstätte und will auch den Völkermord nicht anerkennen.
Unbeirrt durchforsten Überlebende die Wälder und Massengräber, um letzte Dinge zu finden, die auf Opfer des Genozids hinweisen können. Angetrieben werden sie von dem Drang, die Wahrheit zu finden und sie an die nächsten Generationen weiterzugeben. Viele Familien konnten die Überreste ihrer Angehörigen finden und bestatten, andere suchen immer noch eine Spur ihrer Lieben.
Wie steht es um die gesellschaftliche Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica und des Bosnienkrieges?
So ein Prozess ist nie abgeschlossen. Vor allem gibt es kein kollektives Verantwortungsgefühl für Srebrenica. Die serbische Seite behauptet bis heute, es habe kein Völkermord stattgefunden. Die Menschen vom Gedenkort machen klar, dass das Gegenteil der Fall ist.
Es braucht auch Zeit zur Aufarbeitung. Man muss anerkennen, dass viele Opfer über das, was ihnen passiert ist, gar nicht reden. Das kennt man auch von Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg. Manche nehmen ihre Erfahrungen mit ins Grab oder schreiben erst kurz vor ihrem Tod etwas auf. Das ist auch das Recht der Opfer. Ihnen darf nicht die Aufarbeitung auch noch aufgelastet werden.
In der Entität Srpska werden die Mörder von Srebrenica als Helden gefeiert
30 Jahre nach Srebrenica ist die Lage in Bosnien und Herzegowina erneut angespannt. Serbische und kroatische Nationalist*innen machen Front gegen die Zentralgewalt. Serbenführer Dodik betreibt gar die Abspaltung der serbischen Entität. Haben diese Akteur*innen nichts aus dem Hass und dem Morden der 90er-Jahre gelernt?
In der Entität Srpska werden die Mörder von Srebrenica und Kriegsverbrecher Ratko Mladic und Radovan Karadzic als Helden gefeiert, auch in Schulbüchern. Zudem sind noch nicht einmal ansatzweise alle Täter verhaftet, viele können sich dort völlig frei bewegen. Das ist schlimm und es verhindert, dass die Menschen endlich zur Ruhe kommen und sich auf das Gedenken konzentrieren können. All dies wird leider nicht besser.
Es gibt allerdings auch moderate politische Kräfte, die sagen, man müsse sich auf andere Dinge als Nationalismus konzentrieren. Noch aber dringen sie zu wenig durch. Wir müssen sie dabei unterstützen, den Aufbau der Demokratie fortzuführen und eine hoffnungsvolle Zukunft für die Kinder zu schaffen.
Als Mitglied der Parlamentarier*innengruppe Nördliche Aria und Südosteuropa werben Sie für eine Zukunft von Bosnien und Herzegowina in der EU. Inwiefern ist das Land, das seit Ende 2022 Beitrittskandidat ist, bereit dafür?
Die bosnisch-kroatische Föderation ist schon jetzt bereit. Im Gegensatz zur Entität Srpska, die sich eher Richtung Serbien und Russland orientiert. Dennoch bleibe ich dabei, dass die Europäische Union die beste Perspektive für Bosnien und Herzegowina ist. Dieser Fleck Erde gehört, allein geografisch betrachtet, zu Europa. Sarajevo ist nur zwei Flugstunden von Frankfurt entfernt.
Wir haben so viele Gemeinsamkeiten als Bürger*innen unseres Kontinents. Viele Bosnier*innen, die überall in Europa gearbeitet haben nutzen ihr Know-how und versuchen, in Bosnien und Herzegowina Unternehmen aufzubauen. Deswegen hoffe ich, dass die meisten Menschen in der Entität Srpska merken, dass Europa gut für sie ist.
Die EU-Kommission sah Ende 2023 nur geringe Fortschritte bei der Erfüllung der 14 im Jahr 2019 festgelegten Reformprioritäten, etwa im Bereich Justiz und Infrastruktur. Ist das allein mit der schwachen Zentralgewalt zu erklären?
Ich glaube, dass die schwache Staatlichkeit beziehungsweise die komplexe politische Situation, wo immer alles auf die Interessen von drei Bevölkerungsgruppen ausgerichtet sein muss, dafür sorgt, dass Veränderungen ins Stocken geraten und man das große Ziel aus dem Auge verliert. Diese Verfassungsordnung war im Friedensvertrag von Dayton festgeschrieben worden, mittlerweile ist sie überholt und sollte verändert werden.
30 Jahre nach Dayton sollte allen klar sein, dass Menschenrechte mehr zählen als die Zugehörigkeit zur bosniakischen, kroatischen oder serbischen Volksgruppe. Eine breite Mehrheit der Bevölkerung sieht das genauso, sie will endlich eine Perspektive für sich und ihre Kinder sehen.
Haben Sie noch Hoffnung, dass sich Serb*innen, Kroat*innen und Bosniake*innen zusammenraufen, um die Probleme des Landes anzugehen? Oder bräuchte es mehr Hilfe von außen, auch von Deutschland?
Um demokratische Strukturen zu stärken und die Demokratiebildung vor Ort voranzutreiben, wäre mehr Hilfe aus dem Ausland hilfreich. Die Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet auf vielerlei Weise mit der Zivilgesellschaft zusammen, sie hat ein Büro in der Hauptstadt Sarajevo und in Banja Luka in der Entität Srpska. Etliche Menschen kämpfen jeden Tag für eine unabhängige Justiz und für bessere Lebensbedingungen. Die darf man nicht im Stich lassen. Sie sind unsere Verbündeten.
Auch der Sozialdemokrat im Staatspräsidium hat es schwer mit den Nationalist*innen
Mit Denis Becirovic wurde im Jahr 2022 erstmalig seit 2013 wieder ein Sozialdemokrat ins Staatspräsidium gewählt. Wie schlägt er sich mit Blick auf die Entwicklung des Landes?
Er ist sehr sozialdemokratisch unterwegs, und zwar mit den Werten, die wir auch in Deutschland vertreten. Zum Beispiel, dass es keine Rolle spielt, welchen Hintergrund du hast, sondern dass es darauf ankommt, das Leben der Menschen zu verbessern. Egal, wo du herkommst und welcher Ethnie du angehörst.
Ihm geht es darum, eine gerechte Gesellschaft aufbauen, in der alle guten Zukunftsperspektiven haben. Becirovic stammt aus Tuzla, einer der sozialdemokratischsten Städte überhaupt in Bosnien. Mit diesem Spirit macht er Politik. Aber auch er hat es nicht einfach mit den Nationalist*innen. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass es besonders mit Denis eine positive Entwicklung gibt. Er ist nah bei den progressiven Menschen.
Srebrenica mahnt: Erinnerung braucht Verantwortung
Der Beitrag erinnert an ein Menschheitsverbrechen, das Europa nicht vergessen darf. Jasmina Hosterts Perspektive als Überlebende verleiht der Debatte Tiefe und Glaubwürdigkeit. Doch die Mahnung geht über das Gedenken hinaus: Solange Leugnung, Täterverherrlichung und politische Blockaden den Alltag in Bosnien und Herzegowina bestimmen, bleibt die Aufarbeitung unvollständig. Das Dayton-Abkommen sicherte einst den Frieden, doch heute zementiert es ethnische Spaltung. Europas Rolle muss aktiver werden: Mit klarer Haltung gegen Geschichtsverfälschung, mit konkreter Unterstützung für Demokratie, Justiz und Bildung. Srebrenica mahnt – nicht nur zur Erinnerung, sondern zum politischen Handeln.