Geschichte

Löbe-Biografin: „Sein Weg ist gepflastert mit Ämtern, die er abgelehnt hat“

Zwölf Jahre war Paul Löbe Präsident des Reichstags in der Weimarer Republik. Trotzdem gab es über ihn bisher keine Biografie. Victoria Krummel hat diese Lücke zum 150. Geburtstag geschlossen. Im Interview erklärt sie, was Löbe ausgemacht hat.

von Kai Doering · 14. Dezember 2025
Victoria Krummel mit ihrer Biografie über Paul Löbe

Sie arbeiten seit mehreren Jahren als Redenschreiberin für die Präsidenten des Deutschen Bundestags. Nun haben Sie eine umfangreiche Biografie über den langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe geschrieben. Wie kam es dazu?

Ich habe festgestellt, dass es hier eine Lücke gab. 2020 wollte der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Bundestag daran erinnern, dass 100 Jahre zuvor Paul Löbe Reichstagspräsident geworden war. Ich sollte dafür eine Rede schreiben und wollte mir die neueste Biografie über Paul Löbe besorgen, um mich einzulesen. Schnell habe ich aber festgestellt, dass es nicht nur keine Biografie gibt, sondern eigentlich gar keine einschlägige Literatur außer Löbes Autobiografie aus den späten 40er Jahren, die er in den 50ern nochmal überarbeitet hat. Das ist erstaunlich, denn Löbe war immerhin zwischen 1920 und 1932 mit nur einer kurzen Unterbrechung Reichstagspräsident.

„Paul Löbe wollte wohl nie von sich einen höheren Posten, sondern musste mehr oder weniger dazu überredet werden.“

Das dürfte ein Grund dafür sein, dass der Name Paul Löbe heute vielen nichts mehr sagt. Wie kommt es, dass er so in Vergessenheit geraten ist?

Mein Eindruck ist, dass das gar nicht nur an ihm als Person liegt, sondern eher mit einer gewissen Geringschätzung gegenüber dem Weimarer Parlamentarismus zu tun hat. Die Geschichte der Weimarer Republik wurde ja lange von ihrem Scheitern aus erzählt. Auch vom Weimarer Reichstag kennen viele nur das Ende, als er sich 1933 mit dem Ermächtigungsgesetz gegen die Stimmen der SPD selbst preisgegeben hat. Und Löbe war eben ein Protagonist dieses Systems.

Ein weiterer Grund dürfte sein, dass Löbe nach dem Krieg beim Wiederaufbau der SPD keine herausgehobene Rolle gespielt hat. Er wollte das einerseits nicht, weil er sich für das Scheitern der Republik und seiner Partei mitverantwortlich fühlte. Auf der anderen Seite wollte Kurt Schumacher ihn wie viele andere auch nicht dabeihaben, weil er sich aus seiner Sicht nicht deutlich genug gegen die Nazis gestellt hatte.

Wenn man ihr Buch liest, bekommt man den Eindruck, Löbe habe sich nie nach einem Amt gedrängt.

So ist es auch. Paul Löbe wollte wohl nie von sich einen höheren Posten, sondern musste mehr oder weniger dazu überredet werden. Er hat mehrere Male Kandidaturen für den Reichstag abgelehnt, damals noch in Breslau im Kaiserreich. Er wollte nicht in den Rat der Volksbeauftragten. Er wollte nicht Vizepräsident der Nationalversammlung werden, ist es dann im Juli 1919 aber trotzdem geworden. Er wollte nicht als Nachfolger von Reichspräsident Ebert kandidieren. Löbes Lebensweg ist gepflastert mit Ämtern, die er abgelehnt hat.

Für einen Politiker ist das eher untypisch.

Ja, ich denke, es ist eine Form von persönlicher Bescheidenheit, die Paul Löbe ganz sicher eigen war. Es hat ihn aber wohl auch ein Leben lang das Gefühl begleitet, dass er vielleicht nicht gut genug ist. Er hat lange darunter gelitten, dass seine Bildung nur rudimentär war in der Volksschule. In seiner Autobiografie und in Interviews gibt es viele Stellen, wo er das auch anklingen lässt.

„Löbe konnte sehr gut zwischen dem politischen Gegner und dem Menschen unterscheiden.“

Wie hat es Paul Löbe da geschafft, die unterschiedlichen politischen Funktionen, die er hatte – allen voran natürlich die des Reichstagspräsidenten – auszufüllen?

Ich denke, das ist seiner besonderen Vermittlungsgabe geschuldet. Paul Löbe war jemand, der wahnsinnig gut mit Menschen konnte und der nicht nur bereit war anzuerkennen, dass andere Menschen andere Meinungen haben, sondern dass das auch in Ordnung ist. Löbe konnte sehr gut zwischen dem politischen Gegner und dem Menschen unterscheiden. Als Reichstagspräsident hat er es als einen wichtigen Teil seiner Tätigkeit gesehen, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Abgeordneten jenseits der politischen Bühne treffen.

Deshalb hat er unter anderem die parlamentarischen Bierabende eingeführt, wo Politiker quer durch die Parteien hinkamen und sich mit Leuten aus Kunst, Wissenschaft und der Wirtschaft trafen. Die ganze Bandbreite der Weimarer Republik war dabei, Leute mit ganz unterschiedlichen Ansichten, auch Deutschnationale, auch Antisemiten, sogar Hermann Göring.Es war ein geschützter Raum der Geselligkeit, wo man sich austauschen konnten, bei Bier und ein paar Snacks. Löbe war überzeugt, wenn man den Menschen gegenüber kennenlernt, dann bildet das die Grundlage für tieferen Respekt trotz aller politischen Gegensätze. Und die waren im Weimarer Reichstag ja extrem.

Im Rückblick wirkt das etwas naiv.

Vielleicht. Es war seine große Gabe, in seinem Gegenüber immer zuerst den Menschen zu sehen. Aber die hat es ihm dann auch erschwert, den Feind zu erkennen. Göring zum Beispiel kannte er ja aus dem Ältestenrat schon länger. Und so hat Löbe offenbar bis zum Tag seiner Verhaftung geglaubt, ihm werde schon nichts passieren, weil Göring schon auf ihn achten werde. Da waren viele andere Sozialdemokraten schon ins Ausland geflohen oder saßen im KZ. Aber natürlich ist es immer leicht, mit dem Wissen von heute Urteile über das Verhalten historischer Personen zu fällen.

„Aus Löbes Sicht war es nicht zu erklären, warum ausgerechnet die deutsche Sozialdemokratie nicht bei der europäischen Einigung mitmachen sollte.“

War diese falsche Einschätzung seiner Situation der Grund, dass Löbe nicht wie viele andere emigriert ist?

Zum Teil vielleicht. Vor allem hat er aber immer eine sehr starke Verpflichtung gegenüber den Parteimitgliedern und dem arbeitenden Volk empfunden, die ja nicht alle emigrieren konnten. In einer Rede, die er in der Zeit der Weltwirtschaftskrise gehalten hat, hat Löbe auch mal gesagt, wir sozialdemokratischen Führer, wir gehen nicht nach Russland oder nach Schweden, wir lassen euch nicht im Stich.

Nach dem Krieg eröffnete Paul Löbe als Alterspräsident den ersten Deutschen Bundestag und fand eine neue Bestimmung in der europäischen Einigung. Wie kam es dazu?

Die pro-europäische Haltung liegt ja quasi in der DNA der Sozialdemokratie, mit dem Heidelberger Programm, aber auch mit Zusammenschlüssen wie der Sozialistischen Internationale. Löbe hatte früh Sympathien für die Paneuropa-Union, die der österreichische Europa-Enthusiast Richard Coudenhove-Kalergi Mitte der 20er Jahre gründete. Löbe war als Reichstagspräsident auch viel in Europa unterwegs und bemühte sich stets um Austausch und Ausgleich. Er wollte sehen, wie andere in Europa leben und hat das nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs auch als Teil der Friedenssicherung gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dies für ihn noch an Bedeutung gewonnen.

Löbe war da dann allerdings eher auf der Linie von CDU-Kanzler Konrad Adenauer, der ein Verfechter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl war. Warum unterstützte die SPD das damals nicht?

Die SPD war nicht gegen Europa, sie war nur gegen ein Europa in der Form, wie es die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl versinnbildlichte. Kurt Schumacher wollte ein unabhängiges Deutschland in einem sozialistischen Europa und befürchtete, die Unternehmen der Kohle- und Stahlindustrie nicht mehr sozialisieren zu können. Paul Löbe dagegen war der Ansicht, die Montanunion und der 1949 gegründete Europarat seien zwar nicht perfekt, aber eine gute Grundlage für die europäische Einigung.

Damit zielte er auch auf die junge Generation in Deutschland. Aus seiner Sicht war es nicht zu erklären, warum ausgerechnet die deutsche Sozialdemokratie nicht bei der europäischen Einigung mitmachen sollte. Es hat dann noch bis zu den Römischen Verträgen 1957 gedauert, bis der Großteil der SPD von dieser Haltung überzeugt gewesen ist.

„Interessant ist , dass Löbe, der ja auch Mitglied des ersten Bundestags gewesen ist, der Debattenkultur dort nicht sehr viel Positives abgewinnen konnte.“

Nochmal zurück zum Reichstagspräsidenten Löbe. Er musste in einer Zeit im Parlament für Ordnung sorgen, in der der Ton rauer wurde und die Zahl der Zwischenrufe deutlich zugenommen hat. Etwas ähnliches erleben wir gerade im Bundestag. Würde seine Art heute noch funktionieren?

Solche Fragen sind immer schwer zu beantworten, weil die Zeiten natürlich ganz andere sind als vor knapp 100 Jahren. Und man muss auch sagen, dass spätestens nach der Wahl im September 1930, bei der die NSDAP von zwölf auf 107 Mandate katapultiert wurde, die Sitzungsleitung selbst für den sehr erfahrenen, ausgleichenden Löbe fast unmöglich geworden ist. Insofern glaube ich, dass er auch heute große Probleme hätte, zumal der Einfluss von Sozialen Medien noch dazukommt. Viele Reden werden ja fast nur für die Schnipsel gehalten, die sich im Anschluss über Instagram oder Tiktok verbreiten lassen.

Interessant ist übrigens, dass Löbe, der ja auch Mitglied des ersten Bundestags gewesen ist, der Debattenkultur dort nicht sehr viel Positives abgewinnen konnte. Er hat mal gesagt, dort sei es manchmal ähnlich schlimm wie in Weimar zur der Zeit, als Nazis und Kommunisten im Parlament den Ton angegeben haben.

Zum Weiterlesen:

Victoria Krummel: Paul Löbe. Ein Leben für die Demokratie, Osburg Verlag 2025, ISBN 978-3-95510-380-4, 28 Euro

Am 17. Dezember 2025, von 17.30 bis 19.00 Uhr, liest Victoria Krummel in der Bibliothek des Deutschen Bundestages aus „Paul Löbe. Ein Leben für die Demokratie“. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner wird in den Abend einführen. Nach der Lesung mit Originaltondokumenten folgt ein moderiertes Gespräch zwischen dem Präsidenten des Deutschen Bundestages a.D., Wolfgang Thierse, und der Autorin.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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