Alt-Kanlzer: „Für Schmidt war die NATO essenziell, um Moskau zu begegnen“
Helmut Schmidt war nicht nur Bundeskanzler, sondern auch ausgewiesener Verteidigungsexperte. Warum er gegenüber Moskau auf eine Doppelstrategie setzte, sagt Meik Woyke, Vorstandsvorsitzender der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, im Interview.
imago/Sven Simon
Ein klarer Transatlantiker: Helmut Schmidt als Bundeskanzler mit US-Präsident Jimmy Carter bei einem Truppenbesuch
Im Zusammenhang mit Russlands Krieg in der Ukraine wird immer wieder ein Zitat von Helmut Schmidt genannt: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen.“ Wie hat er das gemeint?
Zunächst muss man sagen, dass sich gar nicht eindeutig belegen lässt, wann und ob Helmut Schmidt diesen Satz gesagt hat. Es gibt einige Zitate, die ihm zugeschrieben werden, sich aber nicht konkret historisch belegen lassen; übrigens auch sein berühmter Satz „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Der Satz mit dem Verhandeln und dem Schießen spiegelt aber Schmidts Überzeugung wider, dass Politik immer gesprächsbereit bleiben muss. So war auch sein Einsatz für den NATO-Doppelbeschluss zu verstehen: einerseits Abschreckungspotenzial gegenüber der Sowjetunion durch eine Modernisierung des Atomwaffenarsenals, andererseits die fortbestehende Bereitschaft zu Verhandlungen mit der Sowjetunion. Diese Haltung passt sehr gut zum erwähnten Zitat, zudem lässt sich daraus viel lernen, um den russischen Imperialismus heute in die Schranken zu weisen.
Schmidt war Verteidigungsexperte im Bundestag, ehe er Verteidigungsminister und schließlich Bundeskanzler wurde. Was war seine Linie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik?
Helmut Schmidt war ein ausgesprochener Transatlantiker. In den 50er Jahren ist er ja auf Vermittlung des Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler und mit einem Stipendium der SPD-Bundestagsfraktion in amerikanische transatlantische Sicherheitskreise gekommen. In Harvard hat er 1957 den späteren US-Außenminister Henry Kissinger kennengelernt. Schmidt war jemand, der die NATO als essenziell betrachtete, um den Staaten des Warschauer Paktes mit Moskau an der Spitze begegnen zu können.
Meik
Woyke
Schmidt war in der SPD-Bundestagsfraktion mit seiner Überzeugung, voll auf die NATO zu setzen, eher ein Exot.
In seinem ersten Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ von 1961 beschreibt Helmut Schmidt, wie wichtig ein Gleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion für die Sicherheit Europas ist. Wie kam er darauf?
„Verteidigung oder Vergeltung“ ist gewissermaßen Schmidts sicherheitspolitische Bibel. Sieben Jahre später, 1968, genau zur Zeit des sogenannten Prager Frühlings, erschien die Fortsetzung „Strategie des Gleichgewichts“, in der der Ausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion noch genauer beschrieben wird. Auch hier wird Schmidts Doppelstrategie der Abschreckung auf der einen und des Verhandelns auf der anderen Seite deutlich sichtbar. Damit hat Schmidt schon 1961 die geistige Grundlage für den NATO-Doppelbeschluss gelegt. Das Manuskript für „Verteidigung oder Vergeltung“ hat Schmidt übrigens wirklich handschriftlich verfasst. Es liegt in unserem Helmut Schmidt-Archiv gegenüber seinem Wohnhaus in Hamburg-Langenhorn.
Wie kam Schmidts Haltung in der SPD an?
Als „Verteidigung oder Vergeltung“ 1961 erschien, war die Frage der Aufrüstung noch nicht das große Thema in der Öffentlichkeit. Das wurde es erst in den 70er Jahren mit dem NATO-Doppelbeschluss und dem Aufkommen der Friedensbewegung. Anfang der 60er war das eher eine Debatte in Fachkreisen. In der SPD-Bundestagsfraktion wurde Schmidts Überzeugung, voll auf die NATO zu setzen, indessen äußerst skeptisch betrachtet.
Helmut Schmidt war einer der wenigen Reserveoffiziere in der Fraktion und befürwortete 1966 die Militär-Übung „Fallex 66“, bei der das Zusammenspiel zwischen der NATO, nationalen Entscheidungsträgern und der Bundeswehr getestet werden sollte. Das brachte ihn schließlich bei der nächsten Wahl zum stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden einen herben Rückschlag ein. Schmidt fiel im Vergleich zum Vorjahr hinter seine Genossen Herbert Wehner, Karl Schiller und Alex Möller von dem zweiten auf den vierten Platz in der Rangfolge zurück. Das zeigt, dass die SPD zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt eine pazifistische, aber doch eine antimilitaristische Partei war. Schmidt war hier mit seiner Überzeugung eher ein Exot.
Zumal er auch in der Wehrmacht als Offizier gedient hatte. Wie sehr hat diese Zeit seine Sicht auf das Militärische geprägt?
Sehr. Auch, weil er vermutlich während seiner Zeit im britischen Kriegsgefangenenlager zwischen April und August 1945 für sich analysiert hat, dass er von den Nationalsozialisten um seine Jugend gebracht worden war. Seine Aufzeichnungen während des Zweiten Weltkriegs bei uns in der Ausstellung zeigen, dass Schmidt sich erst Anfang der 40er Jahre klar von der Idee des Nationalsozialismus abgekehrt hat. Es war übrigens sehr mutig, das 1941, 1942 aufzuschreiben.
Trotzdem hat Schmidt auf die Wehrmacht zeitlebens nichts kommen lassen. Sie galt für ihn bis zu seinem Tod als saubere Truppe. Die Verbrechen hatte aus seiner Sicht die SS verübt. Obwohl spätestens seit den 90er Jahren bekannt ist, dass das nicht so war, hat Schmidt diese Erkenntnis nicht an sich herankommen lassen. Insgesamt hat ihn seine Zeit in der Truppe außerordentlich geprägt. Es gibt zum Beispiel Erzählungen langjähriger „Zeit“-Redakteure, die bei ihrer Einstellung von Schmidt alle gefragt wurden, ob sie „gedient“ hätten. Für Schmidt war das offenbar ein Ausweis von Qualität.
Meik
Woyke
Schmidt beschäftigten die sogenannten KDVer sehr, also die Kriegsdienstverweigerer.
Als Verteidigungsminister hat Helmut Schmidt eine Reform der damals noch jungen Bundeswehr angestoßen und sie für demokratische Reformen geöffnet. Warum war ihm das wichtig?
Als die Bundeswehr Mitte der 50er Jahre gegründet wurde, durfte sie nach Schmidts Überzeugung eben kein Staat im Staate sein, wie es die Armee vor 1945 und auch in der Weimarer Republik gewesen war. Es durfte kein Kadavergehorsam herrschen, sondern die Bundeswehr musste eine Parlamentsarmee sein. Dieser Ansatz überzeugt bis heute. Schmidt war zudem das Leitbild „Staatsbürger in Uniform“ wichtig, also dass Soldaten und mittlerweile ebenso Soldatinnen ihre Rechte und Pflichten nicht abgeben, nur weil sie zur Bundeswehr gehen. Für Helmut Schmidt gehörte auch eine akademische Bildung der Offiziere dazu, weshalb er sich für die Gründung von Bundeswehrhochschulen starkmachte. Heute sind das die Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und in München.
Spielte dabei auch eine Rolle, die Attraktivität der Bundeswehr zu steigern, was ja heute ein aktuelles Thema ist?
Durchaus. Schmidt beschäftigten die sogenannten KDVer sehr, also die Kriegsdienstverweigerer. Die gab es, wenn auch in sehr geringem Umfang, auch schon in den 60er Jahren. Für Schmidt war das alarmierend. In seinem Briefwechsel mit Willy Brandt beklagt er wiederholt, dass es zu viele Kriegsdienstverweigerer gebe und forderte ab 1969 als Verteidigungsminister den Kanzler zum Handeln auf. Darüber hinaus versuchte er seinerseits, die Attraktivität der Bundeswehr zu steigern. Während seiner Amtszeit gab es unter anderem den sogenannten Haarnetzerlass, dass also Wehrdienstleistende ihre langen Haare nicht abschneiden mussten. Dafür kaufte die Bundeswehr hunderttausende Haarnetze zum Preis von 50 Pfennig das Stück. Eines haben wir als Objekt in unserer Ausstellung. Es soll noch heute bei der Bundeswehr Lagerbestände geben.
Wie kam der Erlass in der Bundeswehr an?
Es gab wenig überraschend Bedenkenträger in der Bundeswehr und auch in der alten Generalität. Es wurden hygienische Gutachten ins Feld geführt, dass sich in den langen Haaren Ungeziefer festsetzen würde. Überdies wurde kritisiert, die Bundeswehr würde jetzt viel mehr Wasser verbrauchen, weil die langen Haare ja gewaschen werden müssten. Der „Spiegel“ spottete über die „German Hair Force“. Der Erlass hielt dann nur 15 Monate.
Die Bedrohungslage in der Welt nimmt seit Russlands Einmarsch in der Ukraine wieder zu. Die Hoffnung, Deutschland sei „von Freunden umzingelt“ hat sich zerschlagen. Was lässt sich aus dem Handeln Schmidts für unsere Zeit lernen?
Man muss ganz klar sagen: Putin ist nicht Breschnew und das Jahr 2025 sind nicht die 60er und 70er Jahre. Willy Brandt hat schon darauf hingewiesen, dass jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht. Insofern ist es mit dem Lernen aus Vergangenem immer schwierig. Trotzdem lässt sich eines aus Schmidts Handeln sicher ableiten, wie man Putins aggressivem Vorgehen begegnen kann: mit einer Politik der Stärke, also mit militärischem Abschreckungspotenzial bei gleichzeitiger Verhandlungsbereitschaft.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.