75 Jahre Bundesgerichtshof: Das größere und ältere Gericht in Karlsruhe
Der Bundesgerichtshof wird 75 Jahre alt. Am 1. Oktober 1950 entstand der BGH als oberstes deutsches Zivil- und Strafgericht. Er ist damit älter als das Bundesverfassungsgericht und hatte auch eine bewegte Geschichte.
IMAGO/Arnulf Hettrich
Am 1. Oktober wird der Bundesgerichtshof 75 Jahre alt.
„Ich gehe bis nach Karlsruhe“, sagt manche*r, der oder die sich ungerecht behandelt fühlt und meint das Bundesverfassungsgericht. Dabei ist Karlsruhe auch Sitz eines viel größeren Gerichts: des Bundesgerichtshofs (BGH). Während das Bundesverfassungsgericht aus 16 Richter*innen in zwei Senaten besteht, arbeiten am BGH derzeit 151 Richter*innen in 13 Zivil- und sechs Strafsenaten. Der BGH ist also fast zehn Mal so groß und ein Jahr älter. Denn das BVerfG feiert sein 75. Jubiläum erst im nächsten Jahr.
Karlsruhe statt Leipzig
Dass der BGH in Karlsruhe sitzt, war nicht selbstverständlich. Bis dahin war Leipzig das Zentrum des deutschen Justizsystems. Dort stand seit dem Kaiserreich das Reichsgericht. Doch nach Kriegsende lag Leipzig in der DDR und der neue BGH brauchte einen anderen Sitz. Neben Karlsruhe bewarben sich elf Städte, auch Köln – mit Unterstützung von Kanzler Konrad Adenauer. Letztlich gab den Ausschlag, dass Karlsruhe mit dem erbgroßherzoglichen Palais ein repräsentatives Gebäude anbot und rund 80 bezugsfertige Wohnungen für Bundesrichter*innen freigehalten hatte.
Nach der Wiedervereinigung wurde noch einmal über den Standort Karlsruhe diskutiert. Schließlich wäre nun ein Umzug des BGH nach Leipzig möglich gewesen. Aber die Richter*innen hatten nun überwiegend Immobilien in Karlsruhe und Umland gekauft und deshalb wenig Lust, noch einmal neu anzufangen. Das konnten die Richter*innen aber nicht laut sagen. Die Rückkehr in das alte Reichsgericht nach Leipzig galt vielmehr als „unzumutbar“ – wegen der Unrechtsjustiz im Faschismus. Jetzt residiert dort das Bundesverwaltungsgericht. Leipzig bekam vom BGH 1997 nur einen Strafsenat, der bis dahin in Berlin saß, 2020 entstand in Leipzig noch ein zweiter Strafsenat.
Wie wird man BGH-Richter*in?
Nach dem Sommer 2025 mit der zunächst gescheiterten BVerfG-Richterwahl entstand der Eindruck, dass es so ein politisiertes Chaos bei den BGH-Richterwahlen nicht gibt. Aber man muss nur zwei bis drei Dekaden zurückgehen und findet schon das blühende Leben.
So wählte der Richterwahlausschuss, dem die 16 Landesjustizminister*innen und 16 Vertreter*innen des Bundestags angehören, 2001 den Lübecker Strafrichter Wolfgang Nescovic zum BGH-Richter. Nescovic war 1996 durch eine BVerfG-Vorlage zur Cannabis-Legalisierung („Recht auf Rausch“) bekannt geworden.
Die Wahl Nescovics sorgte für Proteste in der Justiz, denn der BGH-Präsidialrat hatte Nescovic als „nicht geeignet“ eingestuft. Ein unterlegener Kandidat erhob eine Konkurrentenklage und verhinderte damit ein Jahr lang Nescovics Amtsantritt. Doch 2003 wurde Nescovic vom Richterwahlausschuss erneut gewählt. Neskovic wurde einem Senat für Insolvenzrecht zugewiesen. Von 2006 bis 2013 war er Bundestagsabgeordneter der Linken.
Schon früher Kritik an Richterwahlen
Ulrich Herrmann wurde 2002 vom Richterwahlausschuss nicht gewählt, weil mehrere Richterverbände protestiert hatten. Herrmann hatte kurz zuvor als Büroleiter des Brandenburger Justizminister Kurt Schelter (CDU) eine Richterin unter Druck gesetzt, sie solle einen Haftbefehl gegen einen Mann aufheben, der von einem CDU-Parteifreund verteidigt wurde. Ein Jahr später stand Ulrich Herrmann jedoch wieder zur Wahl, die Verbände protestierten erneut, doch Herrmann wurde gewählt. Seit 2015 ist er Vorsitzender Richter des 3. Zivilsenats.
Die Richterin Valeska Böttcher vom OLG Celle war 2015 vom Richterwahlausschuss nicht gewählt worden, während ihr OLG-Kollege Falk Bernau Erfolg hatte. Böttcher klagte gegen Bernaus Wahl, weil sie bessere Beurteilungen habe. Letztlich entschied das Bundesverfassungsgericht 2016, dass zwar auch im Richterwahlausschuss das Prinzip der Bestenauslese gelte. Weil es sich aber um einen Wahlakt handele, müsse die Auswahl nicht begründet werden. Eine gerichtliche Kontrolle ist so in der Regel nicht möglich. Böttcher wurde 2018 doch noch an den BGH gewählt.
Wie wird man Vorsitzender BGH-Richter?
Die Senatsvorsitzenden am BGH werden nicht gewählt, sondern vom Bundesjustizminister oder der Bundesjustizministerin ernannt. 1995 wollte der BGH-Strafrichter Heinrich Maul Vorsitzender des 1. Strafsenats werden. Doch der damalige Minister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) zog Gerhard Schäfer vor. Maul fühlte sich politisch diskriminiert, weil er ehrenamtlich Fraktionsvorsitzender der SPD im Karlsruher Gemeinderat war. Seine Konkurrentenklage scheiterte jedoch. Er blieb stellvertretender Senatsvorsitzender.
Mehr Erfolg hatte einige Jahre später Thomas Fischer, bekannter StGB-Kommentator. Er war zunächst auch nur stellvertretender Vorsitzender, wollte 2011 aber Vorsitzender des 2. Strafsenats werden. Der damalige BGH-Vorsitzende Klaus Tolksdorf wollte das verhindern, er hielt ihn für zu dominant. Der Präsident stufte deshalb Fischers Beurteilung überraschend herab. Dieser klagte dagegen und hatte Erfolg. Tolksdorf musste die Beurteilung besser begründen, doch wieder klagte Fischer.
Bettina Limperg als erste BGH-Präsidentin
Er bewarb sich nun auch noch um andere Senatsvorsitze und blockierte bald drei von fünf Strafsenaten. 2013 beendete die damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) den Streit, indem sie Fischer doch zum Vorsitzenden Richter ernannte. Ab 2015 schrieb Fischer rechtspolitische Kolumnen. 2017 ging er in vorzeitigen Ruhestand und wurde zum Of Counsel-Anwalt in der Kanzlei Gauweiler.
Nachdem der glücklose Tolksdorf 2014 in den Ruhestand ging, bestimmte die Bundesregierung auf Vorschlag der SPD Bettina Limperg zur BGH-Präsidentin. Sie ist die erste Frau auf diesem Posten. Es gelang ihr nachhaltig, den BGH zu befrieden.
Prägende Rechtsprechung
Der BGH ist das Flaggschiff der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Als Revisionsgericht entschied er im Jahr 2024 über 5867 zivilrechtliche Fälle vom Miet- bis zum Kartellrecht und 4114 Strafsachen. Dabei läuft die Entwicklung derzeit stark auseinander. Während die Eingänge bei Zivilsachen 2024 um 20 Prozent zurückgingen, nahmen die strafrechtlichen Fälle um 17 Prozent zu.
Wenn neue Konflikte auftauchen und der Gesetzgeber keine speziellen Regeln schafft, müssen die Gerichte Lösungen mit dem vorhandenen Recht finden. Der BGH sorgt dann für Vereinheitlichung. Beim Skandal um die automatische Abschaltung der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen erreichten den BGH so viele Verfahren, dass er dafür einen temporären Hilfssenat einrichten musste, der noch besteht. Im Mai 2020 entschied der BGH, dass VW die Kund*innen dadurch sittenwidrig geschädigt hat, dass die Abgasreinigung nur auf dem Prüfstand richtig funktionierte. Sie konnten daher den Kaufvertrag rückabwickeln, allerdings wurde – gut für VW – die bisherige Nutzung des Fahrzeugs angerechnet.
Im Strafrecht ist der Einsatz von Lockspitzeln gesetzlich weitgehend ungeregelt. Deshalb musste der BGH – auch im Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – entscheiden, was gilt, wenn Täter*innen durch Verdeckte Ermittler*innen oder V-Personen zur Tat angestiftet wurden. Inzwischen gilt dies als Verfahrenshindernis, wenn Täter*innen vor der Anstiftung noch nicht „tatgeneigt“ war. Das gleiche gilt, wenn Agent Provocateur*innen zu Taten anstifteten, die Täter*innen von sich aus nicht begangen hätten; der Staat darf aus Kleindealer*innen keine Groß-Dealer*innen machen.
In der Aufarbeitung der NS-Justiz versagt
Da der Bundesgerichtshof Nachfolger des Reichsgerichts war, gehörten ihm auch viele Richter an, die schon im Dritten Reich an verantwortlicher Stelle aktiv waren. Eine Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte des BGH durch den Historiker Michael Kißener und den Rechtsprofessor Andreas Roth ergab, dass es am BGH jedoch keine entsprechenden Seilschaften gab. Teilweise war der BGH in den 1950er-Jahren sogar innovativ und fortschrittlich, etwa indem er das Allgemeine Persönlichkeitsrecht entwickelte.
Die Richter waren aber überwiegend noch sehr konservativ, wie weite Teile der Gesellschaft auch. So wurden vom BGH etwa so genannte „Geliebten-Testamente“, bei denen eine andere Frau als die Ehefrau zur Erbin eingesetzt wurde, grundsätzlich für „sittenwidrig“ erklärt. Schließlich erhalte hier die Frau als „Zerstörerin einer Ehe und Familie“ auch noch eine Belohnung für den „ehebrecherischen Verkehr“. Das galt selbst dann, wenn der Erblasser mit der neuen Freundin eheähnlich zusammenlebte und diese ihn bis zum Tod pflegte.
Erst in den liberaleren 1970er-Jahren bemerkte der BGH, dass in Deutschland Testierfreiheit gilt, man also frei entscheiden kann, wen man als Erben einsetzen will.
Strengerer Umgang mit DDR-Richtern
Der BGH scheiterte allerdings bei der Aufarbeitung der NS-Justiz. Kein einziger Richter, der an Todesurteilen beteiligt war, wurde zur Rechenschaft gezogen. Als paradigmatisch gilt das Urteil zum ehemaligen Volksgerichtshof-Richter Hans-Joachim Rehse aus dem Jahr 1968. Rehse war für 231 Todesurteile – unter anderem wegen Defaitismus – mitverantwortlich.
Doch der BGH hob eine Verurteilung Rehses auf, weil dessen Verblendung und Rechtsblindheit möglicherweise eine Rechtsbeugung ausschlossen. Rehse wurde dann vom Landgericht Berlin freigesprochen. 1995 bezeichnete der BGH selbst seinen Umgang mit den NS-Richtern als „folgenschweres Versagen“. Die Äußerung fiel in einem Urteil zu DDR-Richtern, die härter angefasst wurden.