Debatte

SPD muss erkennen: Putin will Revision der Grenzen in Europa

Die SPD sollte sich in der Russland-Politik in Realismus statt in Wunschdenken üben. So verständlich der Wunsch nach einer neuen Ostpolitik sein mag, gilt es zu erkennen: Leonid Breschnew wollte in der 1970er Jahren die Grenzen in Europa vertraglich sichern, Wladimir Putin will deren Revision – auch mit Gewalt.
von Heinrich August Winkler · 6. Dezember 2016
Dialog bei der UN in New York: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (r.) und Russland Außenminister Sergej Lawrow
Dialog bei der UN in New York: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (r.) und Russland Außenminister Sergej Lawrow

Geschichte sollte man zu erklären versuchen. Verklären sollte man sie nicht. Das gilt auch für die inzwischen legendenumwobene sozialdemokratische Ostpolitik, die unlösbar mit den Namen von Willy Brandt und Egon Bahr verbunden ist. Das vorrangige Anliegen der beiden war es, angesichts der Spaltung Deutschlands in zwei Staaten so viel an nationalem Zusammenhalt wie möglich zu erhalten. 

Dieses Ziel erforderte es, der bislang offiziell geleugneten Existenz des demokratisch nicht legitimierten zweiten deutschen Staates, der DDR, trotz bleibender völkerrechtlicher Vorbehalte von bundesrepublikanischer und westlicher Seite Rechnung zu tragen und das Verhältnis zu den Staaten des Warschauer Paktes, vor allem zur Sowjetunion und zu Polen, auf eine neue, vertraglich gesicherte, kooperative Grundlage zu stellen. Ebendies geschah durch den Moskauer und den Warschauer Vertrag von 1970, das Viermächteabkommen über Berlin  von 1971, den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1973 und den Vertrag mit der Tschechoslowakei aus dem gleichen Jahr.

Moskau wollte in den 70ern status quo erhalten

Blickt man auf dieses Kapitel der sozialdemokratischen, besser: sozialliberalen Ostpolitik, so war sie ein voller Erfolg. Das Prinzip „Wandel durch Annäherung“, das Egon Bahr im Juli 1973 im Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing verkündete, bewährte sich im geteilten Berlin und im geteilten Deutschland. Es konnte sich bewähren, weil der entscheidende Partner, die Sowjetunion, nach dem Sturz Chruschtschows im Jahr 1964 zu einer Macht geworden war, der es in Europa nicht mehr um revolutionäre Veränderung, sondern um die Wahrung des Status quo, also um die Erhaltung des 1945 geschaffenen Herrschaftsbereiches ging. Um dieses übergeordneten Interesses willen war Moskau sogar bereit, in der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom Sommer 1975 dem westlichen Drängen auf Anerkennung bestimmter Menschenrechte zumindest auf dem Papier entgegenzukommen.

Auf dieses Dokument konnten sich fortan Bürgerrechtsgruppen des damaligen Ostblocks, auch in der Sowjetunion selbst, berufen. Auf diese „Kinder“ ihrer Ostpolitik hätte die deutsche Sozialdemokratie stolz sein können. Doch sie war es nicht. Sie empfand die Bürgerrechtler alles in allem eher als Störfaktoren, die das erreichte Maß an deutsch-deutscher und europäischer Entspannung gefährdeten. Das bekam besonders die einzige Massenbewegung unter den Bürgerrechtsgruppen, die im August 1980 gegründete unabhängige Gewerkschaft „Solidarność“ in Polen, zu spüren.

Zweite Phase der Ostpolitik problematisch

Als im Herbst 1981 zwei Interviewpartner Egon Bahr fragten, ob die Sowjetunion, wenn Polen die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt in Frage stellen sollte, eine solche Entwicklung im Interesse der Stabilität abschneiden dürfe, antwortete er: „Aber selbstverständlich“ (Egon Bahr, Was wird aus den Deutschen? Fragen und Antworten, Reinbek 1982, S. 22 f.). Die „innerpolnische“ Lösung des Solidarność-Problems, die Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski, den Chef des Militärrats zur Nationalen Rettung, am 13. Dezember 1981 galt bei den führenden Sozialdemokraten, von Herbert Wehner über Willy Brandt bis hin zu Helmut Schmidt, nicht nur als das, was sie tatsächlich war, nämlich das, verglichen mit einer sowjetischen Intervention, kleinere Übel, sondern als schlicht unvermeidbar.

In der sogenannten „zweiten Phase der Ostpolitik“, von der in der SPD im Zeichen der Annäherung an die außerparlamentarische Friedensbewegung seit 1980 gesprochen wurde, die aber so richtig erst nach dem Machtverlust vom Oktober 1982 begann, setzte die westdeutsche Sozialdemokratie ausschließlich auf die Vernunft der Partei- und Staatsführungen des Ostblocks, mit denen sie aus der Opposition heraus, also in einer Art Nebenaußenpolitik, ein Netz von „Sicherheitspartnerschaften“ zu flechten versuchte. Für radikale Regimekritik von Dissidenten gab es in der SPD der achtziger Jahre nur wenig Verständnis. Ein von „unten“ erzwungener grundlegender Systemwandel galt als schlechthin undenkbar.

Putin achtet territoriale Integrität in Europa nicht

Die Geringschätzung, die führende Sozialdemokraten gegenüber den Bürgerrechtsgruppen der kommunistischen Staaten an den Tag legten, ist bis heute ein weithin verdrängtes Kapitel der neueren Parteigeschichte. Wenn die SPD in den östlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union so gut wie keine echten Partnerparteien findet, hat das auch mit den falschen Weichenstellungen in der zweiten Phase der Ostpolitik zu tun. Die verbreitete Neigung zur undifferenzierten Verklärung „der“ Ostpolitik lebt geradezu von der Ausblendung der achtziger Jahre. „Die Ostpolitik“ ist in Gefahr, losgelöst von ihren historischen Bezügen gesehen zu werden, sich in einen Mythos und zugleich in ein nicht mehr kritisch hinterfragtes Leitbild für die Gegenwart zu verwandeln.

Das, was man aus der ersten Phase der Ostpolitik lernen könnte, wird auf diese Weise aber gerade verfehlt. Damals, in den sechziger und siebziger Jahren, ging es darum, einer unliebsamen Wirklichkeit  nicht länger mit Formeln zu begegnen, die ein Ausdruck von Wunschdenken waren, sondern ihr nüchtern ins Auge zu blicken. Anders als die Sowjetunion in der Ära Breschnew ist das Russland Putins keine Macht, der es um Besitzstandswahrung, sondern um die Revision des Status quo, um Expansion geht.

Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem hybriden Krieg in der Ostukraine hat Putin faktisch die Unterschrift Gorbatschows unter die Charta von Paris vom November 1990 zurückgezogen – jenes Dokument, in dem sich alle 34 Unterzeichnerstaaten verpflichteten, ihre nationale Souveränität und territoriale Integrität zu achten, Konflikte friedlich beizulegen und überdies die Demokratie, ihre gemeinsame politische Ordnung, zu pflegen und weiterzuentwickeln.

Abschreckung und Verständigung sind nötig

Es versteht sich von selbst, dass Deutschland wie alle westlichen Demokratien auch mit einem Russland im Gespräch bleiben und die Kooperation suchen muss, das dem Traum der Epochenwende von 1989/90, der Schaffung eines demokratisch verfassten, trikontinentalen Friedensraumes von Vancouver bis Wladiwostok, eine Absage erteilt. Von Wunschdenken aber sollten wir uns freihalten. 

Für den Bundeskanzler Willy Brandt hatte es nie einen Zweifel daran gegeben, dass seine Ostverträge des festen Sockels der Westverträge bedurften, dass es ohne den Rückhalt des Atlantischen Bündnisses keinen deutschen Beitrag zur westlichen Entspannungspolitik geben konnte, dass die Fähigkeit zur Abschreckung und die Bereitschaft zur Verständigung die zwei Seiten ein- und derselben Medaille waren. Für die Aktualität dieser Erkenntnis sorgt niemand so nachdrücklich wie Wladimir Putin.

Für Deutschlands ostmitteleuropäische Nachbarn ist ihre Zugehörigkeit zur EU und zur NATO ein Ausdruck ihres Rechts auf Selbstbestimmung und Sicherheit. Das eigentliche Ziel der friedlichen Revolutionen von 1989, deren Vorgeschichte 1980 mit der Gründung von „Solidarność“ auf der Leninwerft in Danzig begann, war die Überwindung der Ordnung von Jalta, das heißt der Spaltung Europas und des alten Okzidents in einen freien und einen unfreien Teil, im Februar 1945. Deutschland würde Europa und den Westen spalten, würde es der Illusion verfallen, es könne eine Politik der Äquidistanz zwischen Russland und dem Westen betreiben oder zwischen beiden als Vermittler auftreten. Deutschland ist ein Teil des demokratischen Westens und schuldet den Ländern eine besondere Solidarität, die 1939 Opfer einer deutsch-sowjetischen Doppelaggression, der unmittelbaren Konsequenz des Hitler-Stalin-Pakts, wurden.

Keine Sonderbeziehungen Berlin – Moskau

Deshalb gilt es, alles zu vermeiden, was auch nur entfernt an die Tradition deutsch-russischer Sonderbeziehungen erinnern könnte – eine Tradition, die für Polen nicht erst mit dem August 1939, sondern mit den Teilungen des Landes im späten 18. Jahrhundert beginnt. Dass die AfD sich über diese Lehre der deutschen Geschichte hinwegsetzen zu können glaubt, macht deutlich, in welchen historischen Zusammenhängen diese Partei steht: Sie hat das Erbe einer ausgeprägt konservativen Russophilie angetreten.

Die Partei Die Linke, die sich kaum weniger putinfreundlich und antiamerikanisch äußert als die AfD, sieht in Russland offenbar immer noch das Mutterland der angeblich großen proletarischen Oktoberrevolution von 1917 und stößt sich nicht daran, das der Schutzpatron aller nationalistischen, rechtspopulistischen, ja neofaschistischen Parteien Europas heute im Kreml sitzt. Wenn die CSU auf ein besonders freundliches Verhältnis zu Putin Wert legt, sind hingegen wirtschaftliche Interessen ein entscheidender Grund.

Die deutschen Sozialdemokraten waren in ihrer Frühzeit in der Tradition von Marx und Engels die schärfsten Kritiker des russischen Autoritarismus. Innerhalb des demokratischen Flügels der europäischen Arbeiterbewegung gab es nach 1917 keinen entschiedeneren Gegner der kommunistischen Form von Diktatur als die SPD. Wenn sich aus der Geschichte der beiden Phasen sozialdemokratischer Ostpolitik nach 1969 etwas für die Gegenwart ableiten lässt, dann ist es die Pflicht zum Realismus und zur Verteidigung der eigenen Grundprinzipien.

So stolz die SPD auf die Leistungen der ersten Phase der Ostpolitik sein kann, so unabdingbar ist ein selbstkritischer Umgang mit den Irrtümern der zweiten Phase. Er dürfte den Sozialdemokraten auch dabei helfen, überzeugende Antworten auf die Herausforderung zu finden, vor die Europa durch das Russland Putins gestellt ist.

Autor*in
Heinrich August Winkler

gilt als einer der führenden Historiker Deutschlands. Er war von 1991 bis 2007 Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

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