Olaf Scholz: Wenn wir den Klimawandel aufhalten wollen, brauchen wir Innovationen
Dirk Bleicker
Die SPD ist in ihrer fast 160-jährigen Geschichte immer eine Partei des Fortschritts. Was bedeutet das im 21. Jahrhundert?
Das Gleiche wie vor 1863: Wenn wir es richtig und mit Zuversicht angehen, machen wir unser Leben besser und unser Zusammenleben gerechter. Unser Land steht vor großen Veränderungen. Wie wir leben, arbeiten und produzieren – all das wandelt sich.
Wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und erstklassige Forschung – dafür ist Deutschland bekannt. Kann das so bleiben?
Im Dezember habe ich die Impfstoff-Hersteller Biontech in Mainz besucht. Zusammen mit Malu Dreyer habe ich mich mit den beiden Gründern Özlem Türeci und Ugur Sahin unterhalten, mir den Betrieb angeschaut und mir ihre Forschungsarbeit erläutern lassen. 20 Jahre haben sie Grundlagenforschung betrieben, mit Geld aus der Privatwirtschaft und einer breiten Unterstützung aus öffentlichen Forschungsmitteln. Es ist für mich eine Geschichte mit Happy-End, dass sie ausgerechnet im Jahr der Corona-Pandemie fertig geworden sind. Der erste in Europa zugelassene Impfstoff kommt aus Deutschland. Das zeigt, Deutschland kann das alles auch in einer sich verändernden Welt.
Im Bundestagswahlkampf 1961 formulierte Willy Brandt das Ziel des „blauen Himmels über der Ruhr“. Für ihn war Umweltschutz Menschenschutz und eine Gerechtigkeitsfrage. Wie sieht das 60 Jahre später in der SPD aus?
Heute liegt es allein am Wetter, ob der Himmel über der Ruhr blau ist. Das ist echter Fortschritt. Jetzt haben wir es aber mit der Klimaerwärmung zu tun. Auch dabei geht es nicht nur um Umwelt- und Klimapolitik, sondern auch um Gerechtigkeitsfragen. Unser Ziel ist klar: Bis 2038 steigen wir aus der Kohle aus, bis 2050 wird Deutschland klimaneutral wirtschaften. Das wird gelingen mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Energienetze, mit dem Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft, mit moderner Mobilität, mit Investitionen in klimafreundliche Produktionsprozesse und mit der Modernisierung von Gebäuden. All das sichert zugleich unseren Wohlstand und Arbeitsplätze.
Seit Anfang des Jahres wird in Deutschland eine CO2-Abgabe erhoben, die Sprit und Heizen teurer macht. Viele empfinden diese Belastung als ungerecht. Was sagen Sie denen?
Der Ansatz ist richtig: Was dem Klima schadet, muss schrittweise teurer werden. Umgekehrt sind Bahntickets günstiger geworden, der Kauf von E-Autos wird mit Prämien unterstützt – und Städte und Gemeinden können finanziell profitieren, wenn sie Windräder betreiben. Einen Haken hat die Sache aber, wenn Kosten einfach weitergereicht werden können. Wenn sich ein Vermieter entscheidet, die alte Ölheizung weiterlaufen zu lassen, ist es ungerecht, wenn die steigenden Kosten allein die Mieter zu tragen haben. Deshalb brauchen wir hier eine Aufteilung der CO2-Kosten zwischen Mietern und Vermietern. Dafür setze ich mich ein.
Die Automobilindustrie ist seit Jahrzehnten prägend in Deutschland, ebenso die Stahlindustrie. Welche Rolle spielen diese Industriezweige in einer CO2-neutralen Zukunft noch?
Beide Industrien bleiben sehr wichtig – müssen sich aber natürlich verändern. Die Produktion von Stahl kann mit Wasserstoff CO2-neutral werden. Den Lkw-Verkehr können wir mithilfe eines ausgebauten Tankstellennetzes auf Wasserstoff umstellen. Beim privaten Autoverkehr muss der Umstieg auf klimafreundliche Antriebe endlich gelingen, und wir müssen den öffentlichen Nahverkehr genauso wie Radwege ausbauen.
Industrie- und Wirtschaftspolitik finden nicht im luftleere Raum statt. Was bedeuten all diese Veränderungen für die Gesellschaft?
Die Bürgerinnen und Bürger wollen von uns wissen, wie wir unser Land durch die 20er Jahre führen wollen, welchen Plan wir haben. Gerade erstellen wir unser Regierungsprogramm. Das Thema Respekt ist mir dabei sehr wichtig. Das ist eine brandaktuelle Frage, wenn wir über Corona-Helden reden und über gute Löhne für Beschäftigte in der Pflege oder im Einzelhandel. Das dürfen jetzt keine Lippenbekenntnisse in der Krise sein, sondern da muss sich dauerhaft was ändern. Außerdem geht es um Anerkennung – etwa für den Lagerarbeiter, für die Handwerkerin oder den Altenpfleger, die Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft. Niemand sollte sich für etwas Besseres halten, weil sie oder er vielleicht einen Weg mit akademischer Ausbildung gegangen ist oder viel Geld verdient.
Respekt ist nichts, was die Politik verordnen kann. Wie wollen Sie eine Gesellschaft des Respekts erreichen?
Eine Gesellschaft des Respekts hat mit besseren Löhnen und Gehältern zu tun, aber nicht nur. Es geht auch um die Art und Weise, wie wir aufeinander blicken. Zuletzt haben die Spaltungstendenzen in den westlichen Gesellschaften zugenommen, alles strebt auseinander. Es fehlt an Anerkennung, an Respekt für unterschiedliche Lebensentwürfe. Der Brexit, die Wahl von Trump und das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den reichen Nationen des Westens sind ein Beleg dafür. Ich stehe für eine Umkehr, ich will eine gesellschaftliche Koalition schaffen, in der unterschiedliche Arbeit und unterschiedliche Berufe gleichermaßen anerkannt werden.
Die Populisten schimpfen bereits auf den „Klimawahn“ und versprechen, es könne alles bleiben, wie es ist. Wie wollen Sie verhindern, dass die Menschen diesen scheinbar einfachen Lösungen auf den Leim gehen?
Populisten geben vor, sie hätten einfache Lösungen auf vielschichtige Probleme: den Blick zurück oder das Ressentiment. Diese Annahme ist aber immer falsch. Wenn wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten wollen, setzt das echte technologische Innovationen voraus. Darum muss man sich kümmern, statt sich dieser Aufgabe zu verweigern. Nur so besteht unser Land in Zukunft den globalen Wettbewerb.
Wie sieht Deutschland im Jahr 2050 aus?
Niemand kann die Zukunft voraussagen. Dennoch: Alles so laufen zu lassen, ist grundfalsch. Mein Anspruch ist: Weichen stellen. So habe ich es in Hamburg als Erster Bürgermeister gemacht. Was ist gut und wichtig für die Stadt? Bessere Bildung, schnellere Digitalisierung – auch der Verwaltung – und vor allem mehr Wohnungsbau. Das gilt auch jetzt. Wir haben Ziele für die Zukunft: Es geht um eine moderne klimaneutrale Industrie, um ein einiges und souveränes Europa, und vor allem um eine Gesellschaft, in der jeder gleich viel zählt. Gute und kostenfreie Bildung, ordentliche Löhne, eine verlässliche Rente, gute und bezahlbare Pflege und Gesundheitsleistungen, kurz: ein starker Sozialstaat an der Seite der Menschen. Unsere Gesellschaft soll von Respekt und Zusammenhalt getragen sein.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.