Sie hilft seit 20 Jahre, Vorurteile abzubauen: durch persönliche Begegnungen.
Alles beginnt mit einem Krankenhausaufenthalt im Herbst 1991. Ein Jahr zuvor hatten sich die DDR und die Bundesrepublik offiziell vereinigt. Mittlerweile ist die erste Euphorie Berichten über rechtsextreme Übergriffe und Frustration im Osten gewichen. Mit wachsender Empörung liegt Helga Niebusch-Gerich in ihrem Krankenhausbett und liest, „was die Zeitungen an kleinlichen Misstönen berichten“. Haben denn alle vergessen, dass bis vor nicht mehr als zwei Jahren eine der gefährlichsten Grenzen der Welt Ost- und Westdeutsche voneinander trennte? Auch nach ihrer Entlassung ist Niebusch-Gerichs Wut nicht geringer. „Wir müssen etwas tun“, fordert sie die Mitstreiterinnen des AsF-Stammtischs in ihrer Heimatstadt Sinsheim auf – und stößt auf offene Ohren.
Erste Einladung aus Chemnitz
Gemeinsam organisieren sie einen Aufruf im „vorwärts“, der im Januar 1992 erscheint: „Frauen in der SPD-Sinsheim in Baden-Württemberg wollen die Lebensumstände ihrer Ost-Schwestern jetzt selber kennenlernen – mit einer ,Frauenbrücke Ost-West'. Sie rufen dazu auf, durch gegenseitige Besuche den jeweils anderen Alltag persönlich zu erfahren.“ Das Motto der Aktion, für das die bayerische SPD-Vorsitzende Renate Schmidt und Brandenburgs Sozialministerin Regine Hildebrandt die Schirmherrschafft übernehmen, lautet: „Zeig mir, wie Du lebst.“
Am letzten Januarwochenende ist es dann soweit: Sieben Frauen aus Baden-Württemberg folgen einer Einladung nach Chemnitz. Es ist eine Reise ins Unbekannte. Sie wird ein voller Erfolg. Am 9. April 1992 gründen die Frauen im Wohnzimmer von Helga Niebusch-Gerich einen Verein. Die „Frauenbrücke Ost-West“ ist gemeinnützig und überparteilich. Niebusch-Gerich wird die Vorsitzende. „Wir wollen uns gegenseitig kennenlernen, um uns besser zu verstehen und unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.“ Dieses Ziel schreiben die Frauen in der Präambel ihrer Satzung fest. Im Mai folgt der Gegenbesuch aus Chemnitz, im September gründet sich dort die erste Regionalgruppe des Vereins. „Natürlich hat jede Frau Vorstellungen vom Leben im anderen Teil Deutschlands. Jetzt können wir erfahren, was daran stimmt“, freut sich Helga Niebusch-Gerich.
Frauenforum in Potsdam
Doch bald reichen gegenseitige Besuche nicht mehr aus. Um komplexere Fragen über den anderen Teil Deutschlands beantworten zu können, müssen Expertinnen her. So findet im März 1993 das erste große Frauenforum in Potsdam statt. Ihm folgen noch viele weitere überall in Deutschland und auch bei den europäischen Nachbarn. Steht in den ersten Jahren der Unterschied zwische Ost und West im Vordergrund, entwickeln sich die Zusammenkünfte über die Jahre zu einem Forum, in dem sich Frauen unabhängig von ihrer Herkunft über Fragen austauschen können, die sie bewegen: Frauen in Politik und Beruf, frauenspezifische Medizin oder Frauen in der Literatur.
Und die Frauenbrücke ruft einen eigenen Preis ins Leben. Zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls verleiht sie am 5. November 1999 in Potsdam zum ersten Mal den „Frauenbrücke-Preis für die innere Einheit Deutschlands“. Sie will damit „Menschen in ein besonderes Licht rücken, die sich den gängigen Ossi-Wessi-Vorurteilen widersetzen“.
Vorbild für Europa
Am 27. Oktober 2012 wird der Preis zum siebten Mal verliehen. Die Gäste sitzen im ehemaligen Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam in Achterreihen. Das Gewölbe ist gedämpft beleuchtet. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan ist gekommen. Hinter ihr sitzt die Publizistin Necla Kelek. „Damals ging es uns darum, uns in Deutschland besser kennenzulernen, um uns besser zu verstehen", blickt Helga Niebusch-Gerich in ihrer Rede auf die Anfangsjahre der Frauenbrücke zurück. Sie selbst hat den Vorsitz 2005 abgegeben. Mittlerweile lenken Gundula Grommé aus dem Westen und Barbara Hackenschmidt aus dem Osten die Geschicke. Der Verein hat 280 Mitglieder in 15 Regionalgruppen. „Die Europäer müssen sich besser kennenlernen", ruft Niebusch-Gerich den Gästen der Preisverleihung zu. „Unsere Frauenbrücke ist gute demokratische Praxis. So etwas wünsche ich mir auch für Europa.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.