Vor der Lebensleistung meines Bruders empfinde ich große Hochachtung. Sie aus Anlass seines 85. Geburtstages am 3. Februar zu würdigen, sei Berufeneren überlassen. Er hat diese Leistungen als Mitglied der traditionsreichen SPD erbracht. Ich hingegen habe mich von früher Jugend an in der nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandenen CDU engagiert. Diese unterschiedliche parteipolitische Orientierung mag jeder von uns mitunter schmerzlich empfunden haben.
Und doch möchten wir nicht als Beispiel für etwas Ungewöhnliches herhalten, sondern als Beispiel für etwas Selbstverständliches angesehen werden. Dafür, dass sich jeder seinen Weg suchen
sollte und trotzdem auch auf getrennten Wegen freundschaftlich miteinander verbunden bleiben kann. Unser Altersunterschied ist dabei für uns wohl nicht der einzige, aber einer der entscheidenden
Gründe.
Zwei Brüder, zwei Parteien
Als mein Bruder 1945 aus dem Krieg nach Hause kam - er war damals 19 Jahre alt -, bot Deutschland ein trostloses Bild. Er begegnete im Mai 1949 Kurt Schumacher, dem von Leid und von fast zehnjähriger Haft gezeichneten Vorsitzenden der SPD. Die Glaubwürdigkeit Schumachers hat ihn beeindruckt. Im Herbst 1950 tritt er der SPD bei. Erst, nachdem er zuvor die Programme aller Parteien sorgfältig geprüft und auch ihre Versammlungen besucht hatte.
Mich, den sieben Jahre Jüngeren, dagegen begeisterte die Persönlichkeit Konrad Adenauers, des ersten Bundeskanzlers der neu entstandenen Bundesrepublik. 1960 trat ich in die CDU ein. In unserer Familie entstand über unser beider Entscheidung keine besondere Aufregung. Allzu heftige Diskussionen haben wir schon aus Rücksicht auf unsere Mutter zu vermeiden versucht. Sie hat nie einer Partei angehört, aber am persönlichen Werdegang ihrer Söhne lebhaften Anteil genommen.
Mein Bruder schrieb mir, als er von meinem Schritt erfuhr: "Ich freue mich darüber, dass nun auch Du zu denen gehörst, die politische Verantwortung nicht nur in der Theorie predigen, sondern
auch bereit sind, praktisch nach dieser Einsicht zu handeln… Dass Du anderen politischen Auffassungen huldigst als ich, soll unsere Freundschaft nicht stören." Allerdings hinderte ihn das nicht,
anlässlich eines Besuches von mir mit seiner jüngsten Tochter ein selbstverfasstes Lied einzuüben:
»Du böser Onkel Du,
Kommst von der CDU,
Willst bald das Land regieren,
Wirst uns noch schön blamieren«
Wir haben stets darauf geachtet, in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam aufzutreten. Das Schauspiel sich streitender Brüder wollten wir nicht bieten, den Doppelte-Lottchen-Effekt vermeiden.
Verwechslungen und gemeinsame Ehrungen
Nur während der kurzen Amtszeit meines Bruders als Berliner Regierender Bürgermeister haben wir gemeinsam demselben Parlament, dem Bundesrat, angehört. Und aus der Zeit, als er Bundesjustizminister war und ich als Bundesratspräsident den Bundespräsidenten zu vertreten hatte, existiert eine Urkunde, die unser beider Unterschriften trägt.
Dass wir nach unserem Ausscheiden aus der aktiven Politik jetzt gelegentlich gemeinsame Einladungen annehmen oder auch gemeinsam ausgezeichnet werden, so z.B. 2009 mit dem "Oswald von Nell-Breuning-Preis", ehrt mich. Es drückt aus, dass uns mehr verbindet als uns trennt. Zum Beispiel die Gewissheit, dass es sich lohnt, unter diesem Grundgesetz zu leben und zu dienen. Dass es sich trotz allem lohnt, ein Leben der Politik zu widmen. Dass es auch in anderen Parteien anständige Menschen gibt. Dass es Not tut, der heutigen jungen Generation Mut zu machen.
In den letzten Jahren werden wir immer häufiger miteinander verwechselt. Ich bekomme Grüße an mich selbst aufgetragen. Mir wird dafür gedankt, dass ich die Olympischen Spiele 1972 nach München gebracht habe. Ein SPD-Ortsverein erbittet von mir, vom Ehrenvorsitzenden der SPD, an einem Autobahnparkplatz Autogramme. Man gratuliert mir, dass ich frühzeitig mit meiner Frau in ein Münchner Altersheim eingezogen sei.
Mein Bruder ist mir bis heute ein Vorbild: Seine eiserne Disziplin, sein Pflichtbewusstsein und sein Fleiß, seine Verlässlichkeit, sein Wissen, seine Lebenserfahrung - übrigens auch sein
Humor.
Bernhard Vogel war von 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und von 1992
bis 2003 Ministerpräsident von Thüringen. Von 2001 bis 2009 leitete er als Vorsitzender die Konrad-Adenauer-Stiftung.