Nichts desto trotz zeigt der Rückblick auf den politischen Wandel seit der Gründung der Sozialdemokratie, ja seit 1945, dass wir unseren historischen Auftrag erfolgreich umsetzen müssen. Unsere Errungenschaften sind zahlreich und nachhaltig. Wir haben, dass zeigen die letzten beiden Bundestagswahlen, aber auch die Kurskorrekturen in der "neuen CDU", die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erfolgreich nach links bewegt, oder, wem das als Zuschreibung zu schwammig ist, wir haben sie liberalisiert, emanzipiert und sozial gerechter gestaltet.
Diese nun eigentlich erwünschte Linksverschiebung sei aber, so Dahrendorf, für die SPD folgenschwer: Indem sie ihren historischen Auftrag erfülle, führe sie sich gewissermaßen selbst ad absurdum. Auch das sehen wir heute. Unsere bisher gesetzten Aufgaben haben wir entweder erreicht (Emanzipation und Bildungsaufstieg der Arbeiterklasse), werden von anderen erfolgreich weitergeführt (Gleichstellung der Frau, gesellschaftliche Liberalisierung) oder sogar von uns in einem selbstzerstörerischen Akt zurück genommen (soziale Absicherung).
Ziel erreicht?
In gewisser Weise kranken wir gerade also daran, unsere Ziele erreicht zu haben. Für eine Partei wie die SPD, deren ureigenster Anspruch, aber auch ihre politische Legitimation darin besteht, innovativ, progressiv, ja bisweilen revolutionär zu sein, ist der jetzige Zustand, in dem nicht wir die Gesellschaft vor uns hertreiben, sondern sie uns (oder sie uns zumindest viele Fragen stellt, auf die wir keinerlei Antworten zu bieten haben) vor allem eins: fatal. Zwanzig Prozent plus, darin sind wir uns alle einig, können und dürfen nicht unser Anspruch sein.
Wir stehen daher vor einer grundsätzlichen Frage, die nur wir uns selbst beantworten müssen: Wollen wir weiter denken oder uns im Nest unserer Errungenschaften zur Ruhe setzen? Steilvorlagen für die weitere Verfahrensweise haben wir in letzter Zeit genug bekommen. Das abgehängte Prekariat, die Krise des Finanzmarktkapitalimus und der libertären Demokratie, die offensichtliche, mangelnde Partizipation des Menschen in der von Colin Crouch postulierten Postdemokratie, die Globalisierung. Gemacht haben wir aus all diesen Themen wenig. Eine Agenda 2040 darf sich nicht darauf beschränken, neoliberale Säue rot anzupinseln und nachzubessern, was uns an sozialer Gerechtigkeit verloren gegangen ist. Die Gegenrede gegen den Neoliberalismus muss systemisch werden.
Antworten für die Zukunft entwickeln
Und hierin liegt ein Kernpunkt unserer Misere, (dass im übrigen nach Colin Crouch nicht nur ein Problem der Sozialdemokratie in Deutschland und nicht nur ein Problem der deutschen Sozialdemokratie, sondern ein grundlegendes politisches Phänomen): uns fehlen nicht die Ideen, nicht die Konzepte, aber der wirkliche, zukunftsfähige Gegenentwurf aus einem Guss. Kaum einer historisch gewachsenen Partei oder Denkschule ist es gelungen, nach dem "Strukturbruch" in den Siebzigerjahren eine eigenständige Antwort für die Zukunft zu entwickeln.
So berechtigt unsere Kritik am Finanzmarktkapitalismus war und ist, müssen wir uns aber auch der Tatsache stellen, dass es in den letzten Jahrzehnten lediglich dem Liberalismus in Fortentwicklung seiner Ideologie gelungen ist, die Geschichte zu beeindrucken. Wir haben uns währenddessen auf die Reaktion beschränkt und zu lange nationalstaatlich und in Abgrenzung zu unseren Wahlgegnern gedacht.
Darüber darf auch die rot-grüne Regierungsphase nicht hinwegtäuschen, begründete sich ihr Erfolg doch auf den gesellschaftlichen und inhaltlichen Kontinuitätslinien der Phase 1965 bis 1985. Sicher, die Zeiten sind komplex und dynamisch geworden und stellen zahlreiche Herausforderungen an uns und an die Politik. Strukturbruch, Neoliberalismus, Neokonservatismus, digitales Zeitalter, schnell zusammenbrechende Realitäten. Es wird für die Politik schwerer. Mehr Reaktion als Vorausplanung ist vonnöten.
Raus aus der Schockstarre
Uns hat diese Komplexität aber auch deswegen überrollt, weil wir nicht früh genug Antworten formuliert haben. Sicher, der Niedergang des Kommunismus hat dem Kapitalismus als "Siegermentalität" einen unfairen Vorsprung verschafft, der auch auf sozialdemokratische Inhalte ungünstig zurückfiel, obwohl diese wenig mit Kommunismus zu tun haben. Der fehlende Gegenentwurf, das neu entstandene Vakuum begünstigte die ungehemmte Entfesselung des Ordoliberalimus ungemein.
Sicher ist auch, dass besonders die deutsche Sozialdemokratie aufgrund der spezifischen politischen Landschaft im wiedervereinten Deutschland von der nachfolgenden Schockstarre gelähmt sein musste. Doch nun haben wir das 21. Jahrhundert und mit ihm eine globale Systemkrise, die Raum lässt für Alternativen. Francis Fukuyama hatte Recht, als er "das Ende der Geschichte" proklamierte, aber dieses Postulat, das sehen wir nun, war nicht für die Ewigkeit geschrieben.
Soziale Frage bleibt aktuell
Geboren und groß geworden im Zeitalter der Industrialisierung und zunehmenden Verstädterung begründet der historische Auftrag der Sozialdemokratie in der Lösung eines ähnlich komplexen und ähnlich übermächtigen strukturellen Problems. Die "soziale Frage" von damals ist der heutigen nicht unähnlich: eine große Schere zwischen arm und reich, die Ausbeutung des Arbeitnehmers (der Produktivkräfte), der stetige Machtzuwachs von Kapital auf nationaler und internationaler Ebene, der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, die mangelnde politische Macht großer Gesellschaftsteile (Klassen). Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden und zeigt, dass wir uns nicht in der gleichen Situation, aber in einer mit vergleichbaren Problemen befinden.
Mit der finanziellen Benachteiligung vieler Menschen, ihrem "Abgehängt"-Sein geht auch ein massiver Partizipationsverlust in unserer Demokratie zusammen. Colin Crouch hat dies eindringlich beschrieben: der einzelne Mensch ist in einer dekadenten Demokratie auf seine vermeintlich einzige Bürgerpflicht konzentriert: am Wahltag seine Stimme abzugeben. Mit dem weiteren Verlauf von Entscheidungsprozessen hat er denkbar wenig zu tun. Das übernehmen die Lobbyisten, die Kapitalisten und andere Global Player. Die Postdemokratie ist zu einem Mechanismus verkommen, der sich nicht überzeugend und glaubhaft präsentieren kann.
Ein Blick in unsere eigene Geschichte zeigt aber, dass die Sozialdemokratie einen wesentlichen Garanten für ihren Erfolg an den Wahlurnen und in ihrer Politik brauchte. Die Partizipation, die Teilhabe, das Engagement von Menschen für unsere Ziele. In ihren Hochzeiten war Sozialdemokratie vor allem eins: ein gesamtgesellschaftliches Projekt, ein politisches, aber auch ein emotionales Zuhause, eine Organisation, die mit Menschen kämpft und um die es sich zu kämpfen lohnt. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir ohne Partizipation nicht überlebensfähig sind.
Sozialdemokratie als gesamtgesellschaftliches Projekt
Für viele Sozialdemokraten/innen - auch und gerade junge - gilt die Ära Brandt als goldenes Zeitalter, in dem alles irgendwie besser war. Dabei vergessen wir gerne, dass kein Politiker nach 1945 die Öffentlichkeit und die Gesellschaft in derart hohem Maße polarisierte, wie Brandt das getan hat. Das kein Politiker so viele Feinde und Gegner hatte wie er. Gerade aber diese Polarisierung ist zugleich auch Indikator seines Erfolgs, da sie ein Resultat seiner Politik war, die für Teile der Gesellschaft so weit in die Zukunft gedacht, so fern von ihren eigenen Grundhaltungen war, dass sie die Konsequenzen schreckten. "Über den Tag hinaus denken", so nannte er das Ganze schlicht.
Der andere Teil aber, seine Wähler und Wählerinnen wählten in besonders deshalb, weil sie an eine bessere, sozial gerechtere, friedlichere Zukunft glaubten, wenn Willy Brandt das Land führen sollte. Brandts Errungenschaften sind uns allen aber eben dennoch heute ein Begriff. Genau wie Gerhard Schröder wurde Brandt von dieser "Neuen Mitte" nicht zuletzt deshalb gewählt, weil er ein großes Versprechen gab: ein Kanzler der (inneren Reformen) zu sein. Mit der "Partei der Freiheit" verband sich der Anspruch, eine Regierung der Modernisierung zu sein.
Nun haben wir in den Punkten "Reform" und "Modernisierung" in der jüngeren Vergangenheit wohl einige Fehler gemacht, die uns nun auf die Füße gefallen sind. Im Kaiserreich war unsere Politik im Übrigen so weit jenseits des bisher gehabten, so weit gegen die Interessen einzelner Teile der Gesellschaft, dass man uns verboten, verbannt und verhaftet hat. Und trotzdem standen wir nicht allein.
Aufbruch zum Besseren wagen
Weil wir für die richtigen Ziele kämpften, haben die Menschen mit uns gekämpft. Daher lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen, was wir brauchen: wir müssen noch einmal mehr Demokratie wagen, indem wir mehr Partizipation wagen. Wir brauchen eine Vision von Gesellschaft in der Zukunft. Wir brauchen ein großes Versprechen.
Große Konzepte, dass sei nun auch zugestanden, entstehen nicht über Nacht. Rot-Grün zehrte von Jahrzehnte währenden Kontinuitätslinien. Die Siebzigerjahre-SPD hatte ihren inhaltlichen Vision bereits seit Beginn der Sechzigerjahre aufgebaut. Wir dürfen daher keine Wunder erwarten, sondern sollten mit Blick auf den mittelfristigen Zugewinn ein konsequentes, nachhaltiges Programm entwickeln.
"Wir sagen: einfach weitermachen wie zuvor führt in die falsche Richtung. Wer die Zukunft gewinnen will muss verändern wollen und den Aufbruch zum Besseren wagen". Dieses Zitat aus dem Papier zum "Deutschlandplan" unterstreicht die Notwendigkeit, nicht nur in der Zukunft Dinge anders machen zu wollen, sondern diese auch wieder offensiv und optimistisch zu präsentieren.
Warum ein gutes Papier nicht ausreicht
Der "Deutschland-Plan" ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung. Er konzentriert sich auf Kernkompetenzen und auf für uns relevante Zielgruppen. Er war ein erster, großer Schritt hin zur Rettung der "Marke SPD". Aber er krankt aber auch an einigen der oben aufgezeichneten Malaisen. Er ist eindimensional, weil er sich auf Wirtschaft und Arbeit konzentriert (eindimensional, nicht falsch).
Er denkt wieder ausschließlich hegemonial. Und er beachtet nicht (was er auch nicht muss, aber dann muss dies an anderer Stelle aufgegriffen werden) zwei andere wesentliche Probleme: die Vertrauenskrise in die Demokratie und jene in die Sozialdemokratie.
Ein gutes Papier alleine reicht nicht aus, uns wählbar zu machen, das haben wir nun bitter erfahren müssen. Und die Schaffung von Arbeitsplätzen reicht nicht aus, unser strukturelles Problem zu lösen. Wir müssen uns drei grundlegende Fragen stellen:
- was brauchen wir, die SPD?
- was brauchen die Menschen, für die wir verantwortlich sind
- und was braucht die Demokratie, in der wir als Partei unseren Ordnungsrahmen haben?
Sie alle betreffen unseren historischen Auftrag: Eine Agenda 2040 sollte eine Antwort darauf sein, wie wir uns Gesellschaft und die Welt in dreißig Jahren vorstellen. Unser Programm muss ein Ausdruck des Zeitgeistes werden. Dieser Artikel soll aber kein anti-traditionalistisches Plädoyer sein, im Gegenteil. Er ist ein Plädoyer, die Antworten für unsere Zukunft konsequent aus der Vergangenheit abzuleiten. Denn die Antworten finden wir nur bei uns selbst.
Diskussion in die Gesellschaft tragen
Wir müssen uns die politisch-kulturelle Hegemonie, ja so etwas wie Deutungshoheit zurück holen. Dazu gehört auch, wieder den wissenschaftlichen Nachwuchs an den Universitäten zu fördern, unseren Status in den Medien zu verbessern, neue und alte Bündnispartner zu finden, unsere kritische Bildungselite in die Pflicht zu nehmen, aber auch die Gesellschaft, die, wenn sie den Vorwurf formuliert, nicht genug gehört zu werden, ein Podium braucht, auf dem sie ihre Interessen artikulieren kann.
Sozialdemokratie ist nur dann erfolgreich, auch das hat die Vergangenheit gezeigt, wenn sie ein gesamtgesellschaftliches Projekt ist. Das Wahlkontor aus Schriftsteller/innen, Künstler/innen und Publizist/innen war mit Sicherheit nicht der einzige Grund, warum Brandt Wahlen gewonnen hat. Er war aber ein wichtiger Faktor, weil die Sozialdemokratie im Wahlkampf Unterstützung außerhalb der eigenen Reihen erhielt und eine nicht unwesentliche Zahl an Themen und Inhalten über dieses Wahlkontor in einer publikumsgerechten Sprache vermittelt werden konnte.
Die Bundestagswahlen am Sonntag haben gezeigt, dass sich die Welt verändert hat. Die beiden Volksparteien haben in den letzten zehn Jahren zehrende Verluste erlitten. Die drei kleinen Parteien sammeln mittlerweile fast vierzig Prozent der Wählerstimmen. Die Linke ist als Partei etabliert und zieht mit mehr als 70 Abgeordneten in den Bundestag ein. Die CSU, das zeigt sich besonders im Rückblick auf die letzten Jahre, hat ihre großen Zeiten hinter sich.
Der "bayerische Faktor" in der Bundespolitik wird zunehmend geringer. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition, eine konservativ geführte Regierung, wird in Zukunft von einer Frau als Kanzlerin und einem Homosexuellen als Vizekanzler und Außenminister geführt, was man sich noch einmal in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen sollte.
Und in all diesen Entwicklungen im Parteiensystem, in der Gesellschaft, in der Weltwirtschaftsordnung stehen wir. Unser Ziel kann nur eines sein. Wir müssen völlig neu über uns nachdenken, unsere eigene Nische finden, einen neuen historischen Auftrag zu Beginn des 21. Jahrhunderts formulieren und uns mit einer allumfassenden, ganzheitlich gedachten Agenda 2040 unsere Existenzberechtigung zurückholen.
20 Prozent plus kann nicht unser Anspruch sein. Wir haben nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Und wir dürfen zu Recht auf unsere erfolgreiche, mehr als 150-jährige Geschichte zurückblicken. Weil wir immer und immer bewiesen haben, dass wir uns den Herausforderungen stellen: kämpferisch, mit Weitblick und mit Mut. Wir müssen etwas wagen! Und ja, wir können es!
Sonja Profittlich ist ehemalige Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat in Bonn Politikwissenschaften studiert und dort über die rechtspolitischen Reformprojekte der Ära Brandt promoviert.