Was sich Neumitglieder von der SPD wünschen – und wie die Partei das nutzen sollte
Florian Gaertner/photothek.net
Das bundesrepublikanische Wahlpanorama seit 2017 fällt für die Sozialdemokraten – wieder einmal – enttäuschend aus. Bekannt sind die entmutigenden Ermattungsprozesse und fatalistischen Abgesänge, die trotzigen Durchhalteparolen und Parteireform-Ankündigungen. Was aber sind die Beitrittsmotive, Wünsche, Hoffnungen und Ansichten jener neuen Parteimitglieder, die während der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz und der damit verbundenen Umfragen-Hausse ihren Beitritt erklärten?
Ein Team des Göttinger Instituts für Demokratieforschung hat 25 von ihnen im Rahmen einer qualitativen Studie ausführlich interviewt. Dieses Sample aus verschiedenen Alters- und Erwerbsgruppen lässt zwar keine repräsentativen Generalaussagen zu – aber doch einige Schlüsse über die tieferliegenden Motive der Neumitglieder.1
Neumitglieder sind überzeugte Pro-Europäer
Tatsächlich speisten sich die Motivlagen der Neusozialdemokraten aus ganz unterschiedlichen Quellen. Als entscheidendes Aufbruchssignal werteten sie die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, das Brexit-Referendum und den Siegeszug des Rechtspopulismus in Europa und Deutschland. Folgerichtig verstehen sie sich als überzeugte Pro-Europäer, die sich gegen „nationalistische“ Rückfälle vereinigen müssen. Dazu gehört aber u. a. auch ein Abbau von Demokratiedefiziten und eine Neugestaltung des europäischen Binnenraums unter sozialpolitischen Gesichtspunkten.
Doch gerade die geforderte egalitäre Sozialpolitik zeigt, dass es weniger die „reale“ SPD mit ihrem derzeitigen Führungspersonal ist, in die die Neumitglieder ihr Vertrauen setzen, sondern ein vages sozialdemokratisches Idealbild. Durchweg wurde die Hoffnung auf eine „Rückbesinnung“ der Partei im Sinne der Kernprinzipien der Sozialdemokratie formuliert. Fast alle unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner monierten eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich; „Soziale Gerechtigkeit“ wurde demgegenüber als bestimmendes Kernvorhaben fixiert.
Chancen und Potenziale für die SPD
Allerdings: Die Vision eines sozialdemokratischen Fortschritts- und Reformprojekts bleibt in den Interviews durchweg eher vage. „Soziale Gerechtigkeit“, „Europa“, gegen „die Rechten“ lauten die Parolen — was das nun aber konkret bedeutet, welche spezifischen Zielsetzungen sich damit verbinden, wird kaum beantwortet.
Die Ergebnisse unserer Studie legen nahe, dass die Beitrittsbewegung von 2017 als ein Zusammenrücken von traditionellen „Kadern“ aus parteinahen Milieus mit teils jahrzehntealten Bezügen zur SPD zu verstehen ist, nicht als genuine Aktivierung oder Erschließung zuvor politikferner Gruppen. Sie alle sind Akademikerinnen bzw. Akademiker oder gewerkschaftlich organisierte Facharbeiterinnen bzw. Facharbeiter. Insbesondere die Neusozialdemokraten höheren Alters sind erfahren in Gewerkschaftsarbeit und zivilgesellschaftlichem Engagement, kommen aus der „68er“-Studentenbewegung, die Jüngeren sind überwiegend Stammwähler oder entspringen sozialdemokratischen Elternhäusern. Kurz: Jener alles entscheidenden Parteisubstanz, die in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive abgeschmolzen ist. Soweit die „schlechte“ Nachricht.
Die lokalen Basisstrukturen wiederbeleben
Andererseits ist die Beitrittswelle von 2017 kein aus kurzzeitiger Euphorie, etwa einem „Schulz-Effekt“, genährtes Strohfeuer. Das ist die gute Nachricht für die SPD. Sie hat in der Schulz-Periode neue, zu großen Teilen engagementbereite und erfahrene Mitglieder mit je eigenen Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen hinzugewonnen, die insbesondere die lokalen Basisstrukturen revitalisieren können. Neue Mitglieder, die sich leidenschaftlich für „die Sache“ interessieren und auch begeistern lassen, mithin größtenteils loyal sind, auch über einen Wechsel des Führungspersonals hinaus.
Gewiss: Der Weg zu einer neuen Vision ist lang, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch. Nicht, was die Sozialdemokraten hier und jetzt sind, sondern was sie sein sollten, bietet politische Zuflucht. Wie etwa eine Kurskorrektur nach links gelingen könnte, ohne der deplatzierten nostalgischen Sehnsucht nach einer von vielen gewünschten Renaissance der „goldenen“ 70er-Jahre-SPD nachzugeben, bleibt ein politisches Kunststück.
Insofern liegt der Ball aus Sicht der Neumitglieder ausdrücklich im Feld der Parteieliten und -funktionäre. Sie warten auf zeitgemäße Projekte, überzeugende Ziele, entschlossene Marschrouten. Dafür gewähren sie ein beachtliches Maß an Vorschuss-Loyalität. Fraglos ließe sich dieses Potenzial nutzen, um die Sozialdemokratische Partei Deutschlands wieder als attraktive politische Wettbewerberin zu rehabilitieren – und dann tatsächlich genuin neue Wählerinnen und Wähler sowie Mitglieder aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, auch und gerade unterhalb der Mitte, für ihr Projekt zu gewinnen.
Die Studie „(Neu-) Mitglieder in der SPD – Beitrittsmotive, Politikvorstellungen, Veränderungsdynamiken“ erscheint in Kürze.
1 Eine methodologische Anmerkung: Qualitative Studien zielen grundsätzlich nicht auf statistische Repräsentativität. Insofern lässt auch unser Sample aus SPD-Neumitgliedern verschiedener Alters- und Erwerbsgruppen keine Generalaussagen zu. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion und Interpretation von Orientierungen, Überzeugungen und Deutungsmustern in ihrer vollen, immer auch widersprüchlichen, Komplexität. Die hier vorgestellte Kurzzusammenfassung verdichtet unsere Resultate über die tieferliegenden Motive der Neumitglieder, die ausführlich und methodisch kontrolliert in der zugrundeliegenden Studie dargestellt sind.
studiert im Masterstudiengang "Globale Politik: Strukturen und Grenzen" und arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.