Herr Platzeck, in Ihrem neuen Buch "Zukunft braucht Herkunft" beklagen Sie, dass es auch 20 Jahre nach dem Mauerfall immer noch erhebliche Wissens- und Verständnislücken zwischen West-
und Ostdeutschland gebe. Was genau meinen Sie?
Ich denke zum Beispiel an die aktuelle Stasi-Debatte. Im Westen wird gefragt: "Braucht Ihr im Osten jetzt euer 68?" Ich erinnere: 1968 waren in Westdeutschland viele Spitzenpositionen in
Verwaltung, Justiz, Polizei von ehemaligen Nazis besetzt. Im Osten sind aber heute die meisten der Spitzenpositionen von Westdeutschen besetzt. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Stasi
im Osten das Regiment führt.
Was nervt Sie so an der Diskussion, ob die DDR nun ein totaler Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht?
Dass auch diese Debatte vor allem durch Unkenntnis bestimmt ist. Wenn die DDR ein Rechtsstaat gewesen wäre, dann hätten nicht Millionen Menschen demonstriert, dann wären nicht Zehntausende
aus dem Land geflohen, dann hätten die Bürgerinnen und Bürger die DDR nicht schlicht und einfach beendet. Wir feiern 2009 nicht den 60. Jahrestag der DDR, sondern wir feiern 20 Jahre friedliche
Revolution. Es wäre schön, wenn sich die Debatte darauf richten würde.
Sie widmen sich in Ihrem Buch ausführlich dem deutschen Einigungsprozess. Welches sind denn die schwerwiegendsten Fehler der Einigung?
Zuerst war der Einigungsprozess ein Erfolg. Aber etwas mehr Bewusstsein von der Größe und Dauer der Aufgabe hätte manch enttäuschte Hoffnungen erspart.
Honoriert der Wähler denn unangenehme Wahrheiten? Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 und Angela Merkel mit der Mehrwertsteuerankündigung 2005 haben ja beide gegenteilige Erfahrungen
gemacht.
Was der Wähler in keinem Fall honoriert, sind gebrochene Versprechen. Gesine Schwan hat Recht: Nichts ist in der Politik schlimmer, als enttäuschte Hoffnungen und verlorenes Vertrauen. Das
vergessen die Menschen einem auch nach Jahren nicht.
Sie wünschen sich, dass der Westen die seelischen Bedürfnisse der Ostdeutschen ernster nimmt. Woran denken Sie dabei?
Für die Ostdeutschen bedeutete die Einigung auch, dass alles, was sie für das Verhalten in der Gesellschaft gelernt hatten, über Nacht wert- und sinnlos war. Sie mussten wieder bei Null
anfangen. Es ist schwer, sich so einen Bruch vorzustellen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Und dazu kam dann auch noch die Einstellung bei einigen aus dem Westen: "Bei euch war alles
schlecht. Wir können und wissen alles besser." Das hat viele Ostdeutsche seelisch heimatlos gemacht.
Was war denn das "Gute" am Osten?
Auch der Osten war Heimat. Aber konkret: Heute praktiziert auch der Westen, was es im Osten schon einmal gab: die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung in Polikliniken,
Kindertagesbetreuung - auch für unter Dreijährige, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine breite Erwerbstätigkeit von Frauen, das Abitur nach zwölf Jahren. Es wäre besser gewesen,
hätte man diesen ostdeutschen Erfahrungsschatz von SED-Propaganda entkleidet und nicht jahrelang gänzlich ignoriert.
Schauen wir zurück auf die letzten 20 Jahre: Auf welche Leistungen können die Menschen in den neuen Ländern stolz sein?
Vieles wird erst im Rückblick klar. Ich glaube, dass Historiker in 10, 20 oder 30 Jahren schreiben werden, was für eine beispiellose Leistung die Menschen erbracht haben. Sie haben eine
fast komplette Deindustrialisierung ihrer Regionen erlebt, dabei ihr Leben gemeistert, auch wenn 80 Prozent der Ostdeutschen nach der Wende einen neuen Beruf erlernen mussten, auch wenn jede
zweite Familie Arbeitslosigkeit erfahren hat - die gesellschaftliche Lage ist stabil geblieben. Das ist eine Leistung, auf die man stolz sein kann.
Die neuen Länder haben den alten Ländern die Erfahrung schwerer wirtschaftlicher Krisen und Umbrüche voraus. Was kann der Westen davon lernen?
Ein Beispiel: Die demographischen Veränderungen, von denen viele Landstriche des Westens erst in einigen Jahren und Jahrzehnten betroffen sein werden, hat der Osten schon erlebt. Wir
wissen, wie man eine Stadt lebenswert hält, auch wenn die Einwohnerzahl von 50 000 auf 30 000 zurückgeht, wie in Schwedt. Das Ganze wäre ohne das, was ich die "ostdeutsche
Veränderungsbereitschaft" nenne, nicht möglich gewesen.
Sie beschreiben als Problem für die SPD die wachsende Heterogenität der Gesellschaft.
Die SPD muss damit Solidarität unter zunehmend Ungleichen organisieren. Wie kann das besser gelingen?
Wir erleben seit Jahren, wie sich Milieus auflösen, etwa die traditionelle Arbeiterschaft. Neue beweglichere Communitys entstehen, wie etwa die so genannte
Internetgemeinde. Darauf müssen wir als Partei reagieren, mit neuer Offenheit.
In Ihrem Buch plädieren Sie für den Wandel der SPD zur Netzwerkpartei.
Das ist eine Antwort. Viele junge Menschen wollen sich engagieren, wollen aktiv sein. Aber sie wollen nicht unbedingt Mitglied einer Partei sein, schon gar nicht bis zum Lebensende, wie es
früher üblich war. Für diese Menschen müssen wir Formen entwickeln, wie sie sich in der SPD engagieren können. Wir müssen diese Menschen für uns gewinnen, sie aber auch wieder gehen lassen
können. Dabei haben wir die Chance, dass manche dann doch Lust kriegen und sagen: "Ich bleibe für länger dabei, ich trete bei euch ein."
Hans-Jochen Vogel hat sich in der
Rezension Ihres Buches dagegen ausgesprochen, das Ziel einer starken Mitglieder- und Volkspartei kampflos
aufzugeben.
Ich schätze Hans-Jochen Vogel sehr, und ich gebe dieses Ziel auch nicht auf. Aber unsere Erfahrung in Brandenburg ist eine andere: Auch nach 20 Jahren sind wir über unsere Mitgliederzahl
von 7000 nicht hinaus gekommen. Damit sind wir quasi schon eine Netzwerkpartei. Denn anders könnten wir so ein großes Land nicht seit 20 Jahren erfolgreich regieren, zumal wir auch fast alle
Landräte und die wichtigen Bürgermeister stellen.
Die Europawahlen haben gezeigt: In fast allen europäischen Ländern verlieren die Sozialdemokraten, egal ob sie in der Regierung oder in der Opposition sind. Haben Sie eine Erklärung
dafür?
Vielleicht werden an uns auch höhere Erwartungen gerichtet, vielleicht wollen unsere Wähler klarere Antworten. Dabei schreien die Herausforderungen der Zeit nach sozialdemokratischen
Antworten: der Zusammenbruch des neoliberalen Turbokapitalismus, ein neues Verhältnis von Staat und Wirtschaft, der Erhalt des Sozialstaates. Wir müssen da einfach unsere Antworten deutlicher
machen.
Was würde es für den Sozialstaat bedeuten, bekämen Union und FDP am 27. September eine Mehrheit?
Die CDU hat sich in ihrem nach wie vor gültigen Leipziger Programm den Abbau des Sozialstaats auf die Fahnen geschrieben. Nach 2005 fand das nur deshalb nicht statt, weil die SPD mitregiert
hat, weil wichtige Ressorts wie das Finanz-, Arbeits- oder Gesundheitsministerium von Sozialdemokraten gehalten wurden. Wenn stattdessen künftig die FDP mitregiert, wird genau dieser Sozialabbau
Wirklichkeit und die Mehrheit der Deutschen wird die Rechnung zahlen. Das müssen wir verhindern. Noch ist Zeit dafür.
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