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Von Hilfsprogrammen zu moderner Entwicklungspolitik

von Heidemarie Wieczorek-Zeul · 29. Oktober 2008
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Irrtümer und Hilfsprogramme

Armut, Kriege, Umweltzerstörung und skandalöse Gerechtigkeitslücken sind Phänomene, mit denen Politikerinnen und Entwicklungsexperten auch vor 15 oder 20 Jahren befasst waren. Doch ihre Antworten waren andere. Von 1990 bis zur Jahrtausendwende prägten der sog. Washington-Konsens und seine Strukturanpassungsprogramme die Entwicklungspolitik. Marktliberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und Haushaltsdisziplin waren quasi unumstößliche Glaubensbekenntnisse. Weltbank und Internationaler Währungsfonds knüpften ihre für die Entwicklungsländer lebensnotwendigen Kredite an diese marktradikale Ideologie. Das führte zu einer drastischen Reduzierung der Sozialetats in vielen Ländern des Südens und zur Schwächung staatlicher Strukturen.

Derweil konzentrierten sich weite Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit auf Hilfsprogramme, die versuchten, das Schlimmste zu verhindern. Viele dieser Programme litten zusätzlich darunter, dass schlechte Rahmenbedingungen ihre guten Ziele konterkarierten. Was nützt das Aufstellen von 1000 Wasserpumpen, wenn das Entwicklungsland keine Mittel hat, um sie zu unterhalten? Was nützt die beste landwirtschaftliche Beratung, wenn Kleinbauern und Bäuerin für ihre Produkte einen viel zu geringen Marktpreis erzielen? In den Hilfsprogrammen der 90er Jahre wurden zudem eindeutig entwicklungshemmende Faktoren wie die Diskriminierung von Frauen und die Ausbreitung der HIV/AIDS- Pandemie nur "unter ferner liefen" betrachtet.

Im selben Zeitraum litten viele Entwicklungsländer unter einer erdrückenden Schuldenlast, die ihnen jegliche Handlungsmöglichkeit nahm. Mosambik beispielsweise musste mehr als 10 Jahre lang seine sämtlichen Exporterlöse allein für die Schuldentilgung einsetzen. So konnte es, so durfte es nicht weitergehen. Angesichts von fast 1,5 Milliarden Menschen, die in absoluter Armut lebten, durfte es kein "business as usual" mehr geben. Diese unhaltbare Situation verlangte nach neuen Antworten.

Moderne Entwicklungspolitik
Deshalb haben wir in den letzten 10 Jahren fundamentale Umsteuerungen in der internationalen Zusammenarbeit und in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit vorgenommen, die vielen Menschen in den Entwicklungsländern neue Perspektiven geben.

Besonders erfolgreich war die Kölner Entschuldungsinitiative aus dem Jahre 1999. Die G8-Staaten haben auf Vorschlag der Bundesregierung beschlossen, hochverschuldete, arme Entwicklungsländer von ihrer drückenden Schuldenlast zu befreien. Auf dem G8-Gipfel 2005 in Gleneagles wurde die Initiative durch einen Schuldenerlass seitens multilateraler Organisationen wie Internationalem Währungsfonds und Weltbank ergänzt. In zwei Stufen konnten insgesamt Schulden in Höhe von fast 150 Milliarden US$ erlassen werden. Teil der Entschuldungsstrategie war, wirksame Beiträge zur Armutsbekämpfung zu leisten und gleichzeitig verantwortungsvolle Regierungsführung und nachhaltige Entwicklung zu fördern sowie Parlamente und die Zivilgesellschaft zu stärken.

Deshalb war der Erlass daran gebunden, dass die Partnerländer Armutsbekämpfungsstrategien verfolgten. In den jeweiligen Ländern konnten sich Organisationen der Zivilgesellschaft an der Erarbeitung dieser Strategien beteiligen. Durch die Entschuldung freiwerdende Mittel gingen in soziale Sektoren wie Bildung oder Gesundheit und verdoppelten auf diese Weise in vielen Ländern die entsprechenden Budgets. Damit war der Abschied von den eingleisigen und sozial schädlichen Strukturanpassungsprogrammen eingeleitet. Die Partnerländer gewannen an Spielraum zur eigenen Finanzierung von Armutsbekämpfung. So führte der Schuldenerlass dazu, dass allein in Afrika heute etwa 29 Millionen Kinder mehr zur Schule gehen.

Die Millenniumserklärung und die Millenniums-Entwicklungsziele aus den Jahren 2000 und 2001 sind Meilensteine moderner Entwicklungspolitik. 189 Staaten dieser Welt bekannten sich zu den "8 Geboten einer gerechten Globalisierung". Nie zuvor hatte es eine derart weltumfassende und verbindliche Erklärung menschlichen Willens zur Bekämpfung von Armut, Hunger, Krankheit und Geschlechterdiskriminierung gegeben. Die Millenniums-Entwicklungsziele begründen eine globale und gleichberechtigte Partnerschaft von Industrie- und Entwicklungsländern. Mit dieser Entscheidung hat die Weltgemeinschaft einen Paradigmawechsel begonnen: weg von einer neoliberaler Weltwirtschaftpolitik und hin zu einer den Menschen zugewandte Entwicklungspolitik. Wir haben den Washington Konsens, der viel Leid über die Menschen in den Entwicklungsländern gebracht hatte, ad acta gelegt.

Ein Jahr später war ich zugegen, als in Monterrey (Mexiko) das Fundament für eine tragfähige, globale Entwicklungsfinanzierung gegossen wurde. Endlich haben wir schwarz auf weiß gefasst, dass es hierbei auch, aber nicht nur um Hilfszusagen geht. Genauso wichtig sind faire Bedingungen im Welthandel, Investitionen in Entwicklungsländern, Regulierung von Schulden, Transparenz und gute Regierungsführung. Und es geht um die Qualität der Entwicklungszusammenarbeit.

Viel Licht, aber auch Schatten

In vielerlei Hinsicht konnten wir seit Beginn des Jahrtausends Erfolge verbuchen. Die Mitgliedsstaaten der EU haben sich 2005 im sog. ODA-Stufenplan dazu verpflichtet, ihre Entwicklungsleistungen bis 2010 auf 0,56% und bis 2015 auf 0,7% des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Bei Weltbank und Internationalem Währungsfonds ist es uns gelungen, ökologische und soziale Standards einzuführen. Der faire Handel hat allein in 2007 um 40% zugenommen und ist längst kein Nischenprodukt mehr. Kleinkreditprogramme, für die die Grameen Bank von Nobelpreisträger Yunus das Vorbild ist, haben Millionen von Menschen aus der Armut befreit. Allein die von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit geförderten Mikrofinanzinstitutionen erreichen bis heute rund 50 Millionen Kundinnen und Kunden.

Globale Partnerschaft kann nur dann funktionieren, wenn sich immer mehr Menschen für ein friedliches Zusammenleben und für Entwicklung einsetzen und damit "good global partnership" praktizieren. In diesem Bewusstsein hat unser Ministerium im Schulterschluss mit nichtstaatlichen Organisationen 1999 den heute hochgeschätzten Zivilen Friedensdienst ins Leben gerufen. Die wirtschaftlich und digital immer vernetzter werdende Welt stellt die junge Generation vor eine Vielzahl neuer Fragen und Herausforderungen. Diesen können wir nur mit Zusammenarbeit und Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen begegnen. Deshalb bieten wir mit dem 2008 begonnenen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst "weltwärts" jungen Menschen die Gelegenheit zu sinnvollem Engagement im Ausland, zur Begegnung mit anderen Kulturen und zu globalem Lernen.

Jetzt haben die VN überprüft, wie nahe wir den Millenniums-Entwicklungszielen gekommen sind. Es gab in der Bilanz viel Licht, aber auch Schatten. Zwar konnte der Anteil der absolut Armen seit 1990 um etwa die Hälfte reduziert werden. Lebenserwartung und Einschulungsraten stiegen signifikant. In Afrika südlich der Sahara ist die Schulbesuchsquote im Primarbereich zwischen 1999 und 2005 um 36% gestiegen. Zusätzlich gehen allein durch Entschuldungsmaßnahmen heute 29 Millionen Kinder mehr zur Schule.

Dennoch können immer noch 75 Millionen Kinder heute keine Schule besuchen. Das Ziel der universellen Grundbildung würde, bei gegenwärtigen Trends, frühestens 2100 erreicht. Auch ist die Mütter- und Kindersterblichkeit noch viel zu hoch. In Afrika ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter die Geburt ihres Kindes nicht überlebt, fast 300 Mal höher als in Industrieländern. Anders ausgedrückt: Jede Minute stirbt eine Mutter bei der Geburt ihres Kindes In der gleichen Zeit sterben 20 Kinder. Auch die Forderung der Weltgemeinschaft nach Gleichstellung von Männern und Frauen ist längst noch nicht verwirklicht.

Schlussfolgerungen
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Millenniums Entwicklungsziele ohne aktive und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben nicht erreichen können. Mehrere Studien der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds haben nachgewiesen, was eigentlich selbstverständlich ist: die Diskriminierung von Frauen behindert das Wirtschaftswachstum. Es war also nicht nur moralisch geboten, es war auch ökonomisch vernünftig, dass die deutsche Entwicklungspolitik Gender konsequent als Querschnittsaufgabe in sämtliche Programme integriert hat. Die Umsetzung des Gender-Aktionsplans der Weltbank ist ein weiteres wichtiges Ziel, das wir mit Nachdruck verfolgen. Dabei kehren wir auch in den eigenen Hallen. Seit 1998 hat sich der Anteil weiblicher Führungskräfte im Entwicklungsministerium fast verfünffacht.

Die dramatische Ausbreitung von HIV/AIDS forderte unzählige Todesopfer, in Afrika sogar mehr als jede andere Todesursache. Das bedeutete unsägliches Leid, Zerstörung von Familien, Tausende von Waisenkindern, aber auch das tausendfache Auslöschen von Wissen und Fähigkeiten, die für die Entwicklung der Länder so dringend gebraucht werden. Deshalb hat die deutsche Entwicklungspolitik in der letzten Dekade einen Schwerpunkt bei der Bekämpfung von HIV/AIDS gesetzt.

Versorgung mit Medikamenten, Prävention, sexuelle Selbstbestimmung von Frauen und Aufbau von funktionierenden Gesundheitssystemen zahlen sich aus. Allein die Zusammenarbeit mit dem von Kofi Annan ins Leben gerufenen Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose konnte schon über zwei Millionen Menschen das Leben retten.

Auf dem Weg zu den Millennium-Entwicklungszielen steht unser Nachbarkontinent Afrika vor großen Schwierigkeiten. Doch auch dort gibt es seit der Jahrtausendwende ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von mehr als 5%; es gibt ein besseres Investitionsklima und weniger Kriege. Wenn Kritiker die Entwicklungspolitik mit Afrika pauschal verteufeln, sehen sie diese positiven Trends nicht. Wenn sie von uns fordern, wieder einen Wust von kleineren Projekten zu fördern, ist dies das Gegenteil einer neuen Antwort und die Rückkehr zum Gießkannenprinzip.

Der internationale Diskurs hat die "Projektitis" längst hinter sich gelassen, weil sie sich nicht bewährt hat. Wenn die tansanische Regierung angesichts von über 400 Gebermissionen pro Jahr "Schonzeiten" für ihre Minister/innen verordnen muss, damit diese Zeit für ihre eigentliche Arbeit finden, dann wird deutlich, wie absurd die Projektitis der alten "Entwicklungshilfe" ist. Auf einer internationalen Konferenz im September diesen Jahres in Accra haben sich 80 Entwicklungsländer mit den wichtigsten Geberländern auf mehr Eigenverantwortung, verbesserte Arbeitsteilung und gegenseitige Rechenschaftspflicht verständigt. Die Accra Agenda for Action ist eine der neuen Antworten, für die ich einstehe.

Ein kooperatives Weltmodell

Zweifelsohne leistet gut koordinierte bilaterale Zusammenarbeit früher wie heute unschätzbare Dienste. Wir leben jedoch in einer immer komplexer werdenden Welt, die sich rasant verändert. Ideologien lösen sich auf und Machtkonstellationen verschieben sich. Die USA verlieren ihre Position als Finanzsupermacht - ihr marktradikaler Kapitalismus ist gescheitert. Wir leben heute in einer multipolaren Weltordnung, China und Indien spielen zunehmend eine wichtige Rolle.

Ein solcher Wandel bringt auch neue Herausforderungen und Verflechtungen mit sich, die neuer Lösungen mit den verschiedenen Akteuren bedürfen. Dies kann nur in einem vertrauensvollen Verbund mit anderen gelingen. Deshalb sind wir auf den Ausbau, die Stärkung und die bessere Finanzierung multilateraler Organisationen wie den VN, der OECD oder der Weltbankgruppe angewiesen.

Globale Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Ernährungskrise führen zu einem Finanzierungsbedarf, der nur gemeinschaftlich geschultert werden kann und einer gemeinschaftlichen Koordination bedarf. Die weltweite Ressourcenverknappung fordert gerechte Lösungen, die wir nur im globalen Einvernehmen finden können. Hier gilt es, innovativ zu denken.

Einnahmen aus der Versteigerung von Emissionsrechten für Entwicklung sind besonders erfolgversprechend - und Deutschland ist hier Vorreiter. Denn der Emissionshandel packt das Klimaproblem an der Wurzel, indem er den Ausstoß von CO2 durch die Versteigerung von Emissionszertifikaten begrenzt. Was läge näher, als die durch dieses System generierten Gelder unter anderem dort einzusetzen, wo die Menschen unter den Folgen der Schadstoffe leiden. Eine weltweite Auktionierung von Emissionsrechten könnte mehrere Billionen Euro generieren - ein enormes Potential für die Finanzierung von Entwicklung und von Maßnahmen zur Vermeidung des und zur Anpassung an den Klimawandel.

Während viele Länder unter den hohen Nahrungsmittel- und Energiepreisen leiden, profitieren andere vom Preisboom bei den Rohstoffen. Länder und Unternehmen, die solche Gewinne machen, sollten einen Teil davon für Entwicklung einsetzen. Dafür sollte die internationale Gemeinschaft eine Agrarfazilität einrichten. Damit könnten zusätzliche Mittel für Investitionen zur Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft in Entwicklungsländern generiert werden - gerade auch für Kleinbauern.

Finanzkrise trifft Entwicklungsländer
Es geht dabei nicht um Almosen: Tatsache ist, dass landwirtschaftliche Investitionen überaus rentabel sein können. Genau hier setzt die Agrarfazilität an. Sie bietet ölproduzierenden Ländern und großen staatlichen Investitionsfonds eine attraktive Anlagemöglichkeit. Gleichzeitig trägt sie zur ländlichen Entwicklung und zur Ernährungssicherung bei.

Dazu kommt die allgegenwärtige Finanzkrise. Der auf kurzfristige Gewinne ausgerichtete Finanzkapitalismus ist gescheitert. Die entwicklungspolitischen Konsequenzen aus der Krise sind evident: Eine Deregulierung der Finanzmärkte können sich die meisten Entwicklungsländer nicht leisten. Ihre Strukturen sind zu schwach und ihre Kapazitäten zur Kontrolle zu gering. Auch deshalb müssen Weltbank und Internationaler Währungsfonds Entwicklungsländer bei Aufsicht und Regulierung der Finanzmärkte unterstützen.

Bei einem durch die Finanzkrise bedingten Wachstumsrückgang werden besonders diejenigen Länder gefährdet sein, die auch unter den hohen Nahrungsmittel- und Treibstoffpreisen leiden; darunter viele Niedrigeinkommensländer. Um die stärksten Effekte der Krise auf besonders gefährdete Bevölkerungsteile abzuschwächen, ist die Unterstützung für den Ausbau sozialer Netze erforderlich.

Es ist meine feste Überzeugung, dass einzig und allein partnerschaftliche Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts tragfähig sind. Wenn wir multilateralen Institutionen und die weltweite Zivilgesellschaft nicht ernst genug nehmen, werden die neuen Herausforderungen unbeherrschbar. Sie können im Extremfall zu unzähligen Katastrophen, zu neuen Kriegen und millionenfachem Leid führen.

Der ehemalige VN-Generalsekretär Kofi Annan hat mit Fug und Recht festgestellt: "Wir sehen heute mit ernüchternder Klarheit, dass eine Welt, in der Millionen von Menschen brutale Unterdrückung und extremes Elend erleiden, nie ganz sicher sein kann, nicht einmal für die Privilegiertesten ihrer Bewohner". Deshalb hat er mit Nachdruck ein funktionierendes globales System eingefordert, mit dem die Weltbevölkerung Herausforderungen gemeinsam meistern kann.

Wenn es uns in diesem Sinne gelingt, die zu Beginn des Jahrtausends geschaffene globale Partnerschaft zu vertiefen, dann und nur dann werden die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme beherrschbar. Ein kooperatives Weltmodell wird Chancen für die Mehrheit der Menschen eröffnen. Mit dieser Zielrichtung ist unsere moderne Entwicklungspolitik die beste Sicherheitspolitik.

Auf mittlere Sicht werden wir einen VN-Sicherheitsrat für nachhaltige Entwicklung brauchen; ein Gremium, das sicherstellt, dass alle Menschen in Würde leben können, unabhängig davon welche Nationalität sie haben. Der Rat für nachhaltige Entwicklung ist eine weitere entwicklungspolitische Antwort, die wir international diskutieren und vorantreiben müssen.

Autor*in
Heidemarie Wieczorek-Zeul

war von 1974 bis 1977 die erste weibliche Bundesvorsitzende der Jusos und von 1998 bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie ist Mitglied im Vorstand des Willy-Brandt-Kreises.

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