Franziska Giffey, die Bezirksstadträtin von Berlin-Neukölln, ist überzeugte Europäerin. Sie will Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien eine Zukunftsperspektive geben. Leicht ist das nicht.
Franziska Giffey spricht schnell, das Thema bewegt sie. „Viele Kinder gehen uns verloren, wenn wir nichts unternehmen.“ Giffey ist Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport in Berlin-Neukölln. Das ist ein Stadtteil, der besonders stark von sogenannter Armutszuwanderung aus Südosteuropa betroffen ist. Mehr als 10 000 Rumänen und Bulgaren wohnen nach Schätzungen des Bezirks dort. Ihnen will die 35-jährige Sozialdemokratin eine Perspektive geben, auf Bildung, Arbeit und ein besseres Leben.
Es ist ein Kraftakt. Denn die osteuropäischen Zuwanderer, die nach Berlin-Neukölln kommen, stammen zum Großteil aus prekären Verhältnissen und sprechen kaum Deutsch. Viele gehören zur Ethnie der Roma. Sie fliehen auch vor der Diskriminierung in ihrer Heimat.
Europa fasziniert sie
Reisefreiheit und Freizügigkeit sind Giffey wichtig, die Idee eines vereinten Europas fasziniert sie. Dies liege auch an ihrer Herkunft aus der DDR, erklärt die gebürtige Brandenburgerin. Als die Mauer fiel, war sie 11 Jahre alt. Diese Erfahrung prägte sie. „Möglichkeiten, ins Ausland zu kommen, habe ich immer genutzt, denn ich wollte die Welt kennenlernen“, sagt Giffey.
Nach ihrem Studium als Verwaltungswirtin arbeitete sie acht Jahre lang als Europabeauftragte von Neukölln und holte die Fördermittel der EU in den Bezirk. Parallel dazu absolvierte sie Praktika in der Berliner Landesvertretung der EU in Brüssel und bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg. „Es schmerzt mich, wenn jetzt europaskeptische Haltungen an Zulauf gewinnen und man alles in Frage stellt“, sagt sie.
Dass die Zuwanderung ihren Bezirk auch vor Probleme stellt, spricht sie dennoch offen an. „Es bringt nichts, das totzuschweigen.“ Die Chancen der meisten Rumänen und Bulgaren in Neukölln, hier eine gute Arbeitsstelle zu finden, sind gering. Viele arbeiten im Baugewerbe oder als Putzkräfte für Dumpinglöhne, die zum Leben nicht reichen. Auch auf dem Wohnungsmarkt machen sich windige Geschäftsleute die Unkenntnis der Rumänen und Bulgaren zunutze. 30 große Wohnhäuser mit Matratzenlagern gebe es in Neukölln, sagt Giffey, oft in miserablem Zustand. Für einen Schlafplatz müssten die Bewohner bis zu 300 Euro zahlen. Mietverträge gebe es oft nicht.
Wichtiger Erfahrungsaustausch
Nachdem Giffey 2010 mit gerade einmal 32 Jahren zur Bezirksstadträtin ernannt wurde, initiierte sie die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft „Roma / Zuzüge aus Südosteuropa“. Dort treffen sich Vertreter der Schulen und der Schulaufsicht, des Gesundheits- und Jugendamtes, der Polizei und des Jobcenters, um Erfahrungen auszutauschen und die Integrationsarbeit zu koordinieren. Der Senat hat Gelder für Sprach- und Kulturmittler bereitgestellt. Sie sollen die Neu-Neuköllner beraten, etwa beim Mietrecht und bei Bildungs- und Gesundheitsfragen. Zudem bemüht sich Giffey darum, den Kindern der Zuwanderer einen Aufstieg in Deutschland zu ermöglichen.
Wie wichtig hierfür eine gute Bildung ist, weiß sie, die einst selbst Lehrerin werden wollte. Für ihre eigene Bildung hat sie hart gearbeitet. Die wenige Freizeit, die ihr in ihrer Zeit als Europabeauftragte blieb, nutzte sie für ein Masterstudium „Europäisches Verwaltungsmanagement“ und für eine politikwissenschaftliche Dissertation über die Europäische Kommission. „Man muss selbst etwas erreichen, wenn man andere dazu bringen will, etwas zu leisten“, sagt sie.
Giffey: "Müssten uns über jedes Kind freuen"
Giffey hat Willkommensklassen einrichten lassen, in der rumänische und bulgarische Kinder in kleinen Gruppen Deutsch lernen, bevor sie in den Regelklassen beschult werden. „Wenn man den demografischen Wandel betrachtet, müssten wir uns eigentlich über jedes Kind freuen, das hierher kommt“, sagt Giffey, die mit einem Tiermediziner verheiratet und selbst Mutter eines vierjährigen Sohnes ist. Rund 800 Kinder aus Osteuropa wurden seit 2010 in Neukölln eingeschult. Darunter auch Zwölfjährige, die in ihrem Leben noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Sie auf das Berufsleben vorzubereiten, bringe den Bezirk an seine finanziellen Grenzen, sagt Giffey.
Im vergangenen Jahr reiste sie selbst nach Rumänien, in das Dorf Fântânele, aus dem viele Neu-Neuköllner stammen. „Ich wollte die andere Seite des Puzzles kennenlernen“, sagt sie. Sie erfuhr, dass Rumänien unter der Abwanderungswelle leidet, mit der auch die Fachkräfte das Land verlassen. Beeindruckt hat sie der Besuch in der örtlichen Schule, in der viele Klassen nur noch zur Hälfte besetzt waren, weil die anderen Kinder bereits in Neukölln sind. „Schauen Sie sich diese Kinder genau an“, sagte Fântâneles Bürgermeister zu ihr. „Sie werden sie bald wiedersehen.“
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arbeitet als Redakteur für die DEMO – die sozialdemokratische Fachzeitschrift für Kommunalpolitik.