Sachlich, aber dennoch mit Leidenschaft über die Groko diskutiert
Schon eine halbe Stunde vor Beginn der Juso-Veranstaltung gibt es keinen freien Sitzplatz mehr im großen Saal des Hauses am Dom, in das die Mainzer Jusos eingeladen haben. Hier wollen sie die Argumente ihres Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert hören und mit ihm und Daniel Stich, dem rheinland-pfälzischen SPD-Generalsekretär, diskutieren. Dieser vertritt die Position der Parteiführung.
„Sehnsucht nach wahrer Erneuerung“
„Dass so viele Leute gekommen sind, zeigt, wie groß das Interesse und die Leidenschaft sind, mit der die Diskussion um eine erneute GroKo geführt wird“, sagt Daniel Stich zur Begrüßung. Seit Jahresbeginn hat der Landesverband in Rheinland-Pfalz 1200 neue Mitglieder aufgenommen, berichtet er. Und betont: „Die SPD ist nicht der Prellbock der Politik.“ Vielmehr gibt es die „Sehnsucht nach einer wahren Erneuerung der Partei“, sagt er. Passend dazu steht auf einem Transparent hinter ihm, Kühnert und der Moderatorin Jana Schneiß die Aufschrift: „Wieder Visionen wagen.“ Das klingt nach einem Slogan aus der Ära Willy Brandt. Diese Zeiten werden an diesem Abend noch öfter in Erinnerung gerufen.
„Hiesige SPD regiert und erneuert sich seit Jahren“
„GroKo und Neuorientierung: Das hat für mich nichts miteinander zu tun“, greift Stich schon einmal eine Argumentationslinie seines Gesprächspartners auf, bevor der überhaupt etwas gesagt hat. „Man kann regieren und sich erneuern“, ist Stich überzeugt. „Das beweist die SPD in Rheinland-Pfalz seit 27 Jahren.“ Dabei räumt er ein: „Mag sein, dass der Weg der Erneuerung in der Regierung etwas schwieriger ist als in der Opposition, aber eine Ausrede darf dies nicht sein.“ Stich wirft einen Blick ins blau-weiß-rote Nachbarland: „Ich war voriges Jahr in Frankreich und habe gesehen, was aus der einst so stolzen sozialistischen Partei geworden ist.“ Daher sein Appell: „Ich bin mir sicher, dass wir uns alle bewegen müssen, um unsere Inhalte in der großen Koalition zu verwirklichen.“ Für ein Nein zur GroKo „würden die Menschen da draußen kein Verständnis haben“, ist Stich überzeugt.
Ein Vertrag voller Absichtserklärungen
Kevin Kühnert hat ruhig und interessiert zugehört. Dass so viele Menschen gekommen sind und damit ihr großes Interesse an der SPD zeigen, „das stimmt mich stolz“, sagt der 28-Jährige. Und fragt: „Was könnte das Alleinstellungsmerkmal einer alten stolzen Partei sein? Die Fortsetzung der bisherigen GroKo-Vereinbarungen?“ Darin sieht er das Prinzip des Vertagens und Auslagerns. Der Koalitionsvertrag sei voller Absichtserklärungen, „und die Parteispitze jubelt diese Vereinbarungen hoch.“
„Es werden Illusionen an die Mitglieder geweckt, aber nicht an die Wähler, die eine Umsetzung erwarten“, argumentiert Kühnert. „Was sagen wir denen in ein paar Jahren?“ Vor diesem Hintergrund müsse man die geringen Zustimmungswerte für die großen Parteien sehen, insbesondere bei der jüngeren Generation. „Die GroKo hat uns in unserem Denken sehr klein werden lassen“, appelliert der Juso-Chef an die eigenen Leute: „Die SPD erneuern – das fängt bei uns selbst an. Erneuerung heißt, dass wir den Arsch endlich hochkriegen müssen.“
In der Analyse eng beieinander
In der Analyse der im Koalitionsvertrag ausgehandelten Kompromisse liegen Stich und Kühnert eng beieinander. Aber während Stich die Notwendigkeit der vielen kleinen Schritte beschwört, sind für Kühnert die Kompromisse „so schräg, dass man unsere Positionen darin nicht mehr wiedergefunden hat“. Zum Beispiel beim Thema Klima: „Alle haben den Diesel-Gate mitbekommen. Wir dürfen das Thema nicht den Grünen überlassen. Das erwarten junge Menschen von uns, die nicht mehr eine so konkrete Parteibindung haben wie vielleicht vor 20 Jahren.“ Stich hält ein anderes Beispiel dagegen: Die Familienzusammenführung von Bürgerkriegsflüchtlingen, wenn auch beschränkt auf 1000 Personen pro Monat plus einer Härtefallregelung, wäre ohne die SPD nicht zustande gekommen. „Lieber 1000 als Null.“
„Keine Seite wurde vereinnahmt“
„Es war eine faire und sachliche Diskussion“, resümiert Paule Albrecht am Ende im Gespräch mit dem „vorwärts“. Die 19-jährige Sprecherin der Jusos in der Südpfalz hat den Eindruck gewonnen, dass sich jeder neutral eine eigene Meinung bilden konnte, „ohne von einer Seite vereinnahmt zu werden“.